Editorial

Entwicklungsfähig

Meine Söhne haben es gut. Sie gehen in den evangelischen Kindergarten in Frankfurt-Eckenheim, wo die Erzieherinnen vorbildlich arbeiten. Sie organisieren Ausflüge zu den Dinosauriern im Senckenberg Museum und zur örtlichen Feuerwache, zur Tierarztpraxis in der Nachbarschaft und zu den Lehrbeeten des Kleingartenvereins.

Vorlesen gehört zum Alltag ebenso wie das Zähneputzen nach dem Essen. Aus einem vielseitigen Programm picken sich die Drei- bis Sechsjährigen das heraus, was sie interessiert. Regeln werden im Kinderparlament diskutiert und beschlossen, in das die Gruppen Delegierte entsenden. Diese Kindertagesstätte macht ihre Zöglinge systematisch mit der Stadt und der Gesellschaft vertraut, in der sie aufwachsen.

Was für Kindergärten stimmt, gilt ähnlich auch in Grundschulen: Das Angebot muss zur Lebenswelt der Kinder passen. Wo der Lehrplan daran vorbeigeht, wird die natürliche Lernbegeisterung junger Menschen nicht genutzt und durch sinnlos-stupiden Drill unterdrückt. Die Ergebnisse sind regelmäßig mager.

Die richtige Art von Betreuung tut allen Heranwachsenden gut. Kinder von sozial schwächeren Eltern brauchen Anregungen aber besonders, wenn sie zuhause nicht lernen, wie spannend Bücher sind, welche Kulturattraktionen die Heimat bietet oder wie Menschen Meinungsverschiedenheiten mit Argumenten klären können. Jede gute Bildungsinstitution nutzt das angeborene Interesse aller Kinder, ihre Umwelt kennen zu lernen und möglichst genau zu verstehen. Spielerische Methoden versprechen den meisten Erfolg, weil sie Spaß machen, ohne zu ängstigen.

Guter Unterricht stärkt das Selbstwertgefühl aller beteiligten Kinder, denn sie begreifen Dinge aus eigener Anschauung und erleben, dass sie dazugehören. Sie lernen, sich in einer Art öffentlichem Raum zu artikulieren. Auf absolut korrekte Grammatik kommt es – zumal in den ersten paar Jahren – nicht an; aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Zöglinge eines Tages die Sprache der Gesellschaft, in der sie leben, gut beherrschen, steigt. Das Schulwesen der reichen Nationen Westeuropas oder Nordamerikas beherzigt solche Einsichten längst. Aber in vielen Entwicklungsländern verwenden Lehrer immer noch alte Fibeln der früheren Kolonialmächte. Ausflüge zu interessanten Orten sind nicht üblich, und oft dürfen sich die Kinder nicht einmal ihrer Muttersprache bedienen.

Untersuchungen der UNESCO zufolge ist Armut der Faktor, der den Lernerfolg weltweit am stärksten behindert. Auf Platz zwei folgt ländliche Abgeschiedenheit (siehe Bourdon und Michaelowa auf Seite 291 in diesem Heft). Armut und Abgeschiedenheit korrelieren oft. Ausgrenzung ist also das größte Hindernis auf dem Weg zur allgemeinen Grundbildung. Wer Kindern trotzdem etwas beibringen will, muss sie motivieren, darf sie aber nicht einschüchtern.

Entwicklungsbedarf herrscht freilich nicht nur in armen Ländern. In Deutschland wissen wir, dass eigentlich alle Drei- bis Sechsjährigen in öffentlichen Einrichtungen so betreut werden müssten wie meine Söhne. Die PISA-Studien haben gezeigt, dass der langfristige Lernerfolg von Migrantenkindern davon abhängt, wie früh das hiesige Bildungssystem sie erreicht. In der Praxis hinkt Deutschland diesbezüglich aber anderen reichen Nationen hinterher. Es gibt zu wenige Kita-Plätze und zu wenige Erzieher, die wiederum zu schlecht bezahlt werden und weniger gut ausgebildet sind als etwa in Skan­dinavien. Entwicklungsbedarf haben eben nicht nur arme Staaten.

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