Demographie

Altersrenten für alle

Immer mehr Entwicklungsländer unternehmen Schritte, um die Alterssicherung zu verbessern. Dies kann positive Auswirkungen auf die Entwicklung eines ganzen Landes haben.
Chinas New Rural Pension Scheme erreicht 133 Millionen Menschen im Alter von über 60 Jahren. Paul Springett/Lineair Chinas New Rural Pension Scheme erreicht 133 Millionen Menschen im Alter von über 60 Jahren.

Eine der auffälligsten Veränderungen in der globalen Entwicklungsdebatte der letzten zehn Jahre ist, dass das Thema soziale Absicherung an Bedeutung gewinnt. Einst relativ unbeachtet, wird nun breit darüber geforscht und diskutiert. So gab die Internationale Arbeitsorganisation ILO im vergangenen Jahr eine neue Empfehlung zur sozialen Grundabsicherung ab. Und die jüngsten Berichte des UN High Level Panels und des UN-Generalsekretärs legen nahe, dass soziale Absicherung in der Post-2015-Agenda einen wichtigen Platz haben wird.

Es gibt mehrere Gründe für dieses steigende Interesse. Immer mehr Länder setzen soziale Sicherungsprogramme um. Dadurch werden diese Ansätze nicht nur sichtbarer, ihre Wirkungen werden auch mehr und besser erforscht. Länder wie Brasilien und China haben soziale SIcherungsprogramme als antizyklische Antwort auf die globale Wirtschaftskrise genutzt, was ebenfalls Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt hat. Aber im Kern rührt die Aufmerksamkeit daher, dass sich eine Tendenz abzeichnet, die wegführt vom Mainstream-Entwicklungsmodell. Dieses basiert auf Selbsthilfeansätzen oder auf der Annahme, dass wirtschaftliches Wachstum auch automatisch die Situation der Armen verbessert. Stattdessen jedoch müssen Staaten ein Minimum an sozialer Sicherung bieten, damit die gesamte Bevölkerung ihr Recht auf einen angemessenen Lebensstandard genießen kann.

 

Entmystifizierung der sozialen Renten

Soziale Absicherung umfasst eine Vielzahl verschiedener Programme. Eines der beliebtesten ist die beitragsfreie (oder „soziale") Grundrente. Dies sind staatliche, beitragsfreie Transferleistungen an ältere Menschen. Das ist keine neue Idee. Die ersten sozialen Renten entstanden schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts beim Aufbau der Sozialversicherungssysteme in Ländern wie Dänemark, Österreich und Großbritan­nien, und sie spielen auch heute noch eine zentrale Rolle in den Sozialsystemen entwickelter Länder.

Allerdings haben sich soziale Renten erst im vergangenen Jahrzehnt als Instrument der sozialen Absicherung auch in anderen Regionen etabliert. Der Datenbank „Pension Watch" von HelpAge International zufolge (siehe Kasten auf S. 420) haben heute 101 Länder soziale Renten eingeführt, wobei über die Hälfte davon nach 1990 und 33 nach 2000 eingeführt wurden. Ein beachtenswertes Beispiel ist die „New Rural Pension Scheme" für ländliche Gebiete Chinas aus dem Jahr 2009, das 133 Millionen Menschen im Alter von über 60 Jahren erreicht. Chile hat sein bereits existierendes Rentenprogramm für arme Senioren in eine Solidaritätsrente umgewandelt, die sich an die unteren 60 Prozent der Einkommensskala richtet.

Man sollte annehmen, dass die zunehmende Beliebtheit sozialer Renten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen die Aufmerksamkeit der Entwicklungsgemeinschaft erregt hätte. Aber das ist zum Großteil nicht passiert. Dass Regierungen ihre geringen Steuereinnahmen für die Unterstützung alter Menschen ausgeben wollen, ist vielen Entwicklungsfachleuten im Gegenteil weiterhin ein Rätsel. Ältere Menschen werden in der Regel nur als eine von vielen gefährdeten Gruppen wahrgenommen, und steht nicht gerade weit oben auf der Prioritätenliste. Es gibt in der Fachwelt zudem nur ein sehr eingeschränktes Bewusstsein für die schnelle Alterung, die die meisten Entwicklungsländer in den kommenden Jahrzehnten verändern wird.

Aber noch überraschender ist, dass soziale Renten oft nicht einmal die Aufmerksamkeit der Organisationen erregt haben, die sich mit Renten und Sozialpolitik befassen. Seit der Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation 1919 und dem Engagement der Weltbank in diesem Bereich seit 1990 dreht sich die Debatte eher um beitragsbasierte Programme. Die Annahme war immer, dass Entwicklungsländer dem Muster vieler OECD-Staaten folgen und beitragsfinanzierte Sozialversicherungen einführen würden. So gesehen steht der Trend, beitragsfreie Systeme wie soziale Renten einzurichten, dem orthodoxen Sozial­versicherungsdenken entgegen.

Das führt dazu, dass Entwicklungsfachleute so­ziale Renten oft als Teil einer sonderbaren „Rentendebatte" abtun, wohingegen Rentenfachleute soziale Renten als „Sozialhilfe" abtun. Dass ein solch wichtiges In­strument der Sozialpolitik von beiden Gruppen so stiefmütterlich behandelt wird, ist alarmierend.

 

Warum sollten wir uns engagieren?

Gründe für die geringe Begeisterung für soziale Renten sind vorstellbar. Manchmal wird Regierungen zum Beispiel unterstellt, dass sie soziale Renten nur einführten, um bestimmten Interessengruppen der Gesellschaft zu gefallen. Dieses Argument aus reicheren Ländern, in denen die Zahl der Senioren hoch ist, passt dagegen nicht zu Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen. In Ländern wie Lesotho und Peru etwa, wo soziale Renten ein heißes Wahlkampf­thema geworden sind, machen ältere Menschen gerade mal sieben bzw. neun Prozent der Bevölkerung aus. Eine wichtige Wählerschaft ist das nicht. Vielmehr scheint es, dass das Thema Altersversorgung ein grundlegendes Anliegen dieser Gesellschaften ist.

Forschungsergebnisse zeigen, dass Absicherung im Alter große Auswirkungen auf Menschen aller Generationen hat. Wo keine formalen Sozialleistungen vorhanden sind, gibt es für ältere Menschen nur zwei Möglichkeiten: entweder sie sind von der Familie oder anderen Netzwerken abhängig, oder sie müssen es alleine schaffen und große Opfer bringen.

Bisher befasst sich die Altersrentendiskussion vor allem mit jenen älteren Menschen, die keine andere Unterstützung erhalten. Beispielsweise ist die soziale Rente in Belize auf ältere Menschen beschränkt, die „keine Einkommensquelle oder angemessene Form der Unterstützung" haben. Dagegen werden soziale Renten in Ländern mit einer starken Tradition der Unterstützung älterer Menschen, insbesondere in Osta­sien, oft sogar als unnötig angesehen. Dabei wird häufig übersehen, dass dies eine große wirtschaftliche Last für Familien, Netzwerke und größere Gemeinschaften darstellt. Wenn ein älterer Mensch sich aus der Arbeitswelt zurückzieht, verliert ein ganzer Haushalt Einkommen. Um seinen Lebensstandard aufrecht zu erhalten, benötigt der ältere Mensch aber finan­zielle Unterstützung. Möglicherweise steigen seine Kosten zudem, wenn die Gesundheit schlechter wird.

Die Auswirkungen sind beträchtlich. In Ländern, in denen HelpAge Daten erhoben hat, leben 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung mit einem älteren Menschen zusammen; viele weitere leben in gegenseitigen Unterstützungsnetzwerken. In Myanmar, wo es praktisch keine Absicherung im Alter gibt, erhalten 84 Prozent finanzielle Unterstützung von ihren erwachsenen Kindern. Arme Familien müssen dieses Geld andernorts einsparen. Das sind harte Entscheidungen. Sozialrenten helfen daher nicht nur den älteren Menschen selbst, sondern erlauben auch den Haushalten, die sie unterstützen, ihre geringen Mittel anders zu investieren. Untersuchungen in Südafrika haben gezeigt, dass soziale Renten daher zu besserer Gesundheit der nachfolgenden Generationen führen. Enkelinnen von Rentenbeziehern werden im Schnitt zwei bis vier Zentimeter größer. Laut einer aktuellen Studie zur Universalrente in Bolivien gehen in Haushalten, die Renten beziehen, mehr Kinder zur Schule und die Kinderarbeitsquote ist deutlich geringer. Das Vorhandensein von sozialen Rentenprogramme bedeutet allerdings nicht, dass Familien Ältere nicht mehr unterstützen müssen. Die meisten so­zialen Renten sind zu niedrig für völlige finanzielle Unabhängigkeit. Aber sie verringern den Anteil, den Angehörige aufbringen müssen, insbesondere in armen Familien. Was Menschen sich für ihr Alter ausmalen, beeinflusst auch ihr Verhalten im Laufe ihres Lebens – was wiederum Auswirkungen auf die Gesellschaft und die Wirtschaft hat. In China, wo die Rentenabsicherung früher eingeschränkt war und ältere Menschen wenige Kinder haben, auf die sie sich im Alter verlassen können, ist die Sparquote hoch, insbesondere bei Menschen in den 50ern. Ein Hauptgrund dafür, dass die Regierung die sozialen Renten auf dem Land ausweitete, war, dass sie den Konsum erhöhen und das Wirtschaftswachstum ankurbeln wollte.

Die Bedeutung von Altersrenten wird noch größer angesichts der rapiden Bevölkerungsalterung, die den Entwicklungsländern in den kommenden Jahrzehnten bevorsteht. Weltweit wird sich die Zahl älterer Menschen in 40 Jahren von 809 Millionen im Jahr 2012 auf 2 Milliarden erhöhen, und viele davon werden in den weniger entwickelten Teilen der Welt leben. Allein in Afrika, wo heute vor allem die jüngere Generation stark ist, wird die Generation 60+ bis 2050 um das 13-fache anwachsen.

 

Ein neues Modell für soziale Absicherung im Alter

Wenn wir nun anerkennen, dass Absicherung im Alter für Entwicklung wichtig ist, so müssen wir, um das Problem anzugehen, alte Annahmen überdenken. Das weltweite Gedankengut über Sozialversicherungssysteme basiert größtenteils auf den Erfahrungen entwickelter Nationen. Hier ist eine beitrags­finanzierte Sozialversicherung vorherrschend, das sogenannte Bismarck’sche Modell, das es etwa in Frankreich, Deutschland und den USA gibt. Alle Arbeitnehmer zahlen in die Versicherung ein. Umverteilungen und staatliche Subventionen sorgen dafür, dass alle ein Mindestmaß an Rentenauszahlungen erhalten. Frauen, die nicht erwerbstätig waren, erhalten durch die Beiträge ihrer Ehemänner Rentenansprüche, während diejenigen, die durch das Netz fallen, Sozialhilfe bekommen.

Dieses Modell ist in einer Reihe entwickelter Länder sehr erfolgreich gewesen, aber es stößt in weniger entwickelten Ländern an seine Grenzen. Das Hauptproblem ist, dass der Anteil an informellen Arbeitsverhältnissen in den meisten Entwicklungsländern viel größer ist als zu der Zeit als Sozialversicherungssysteme in Europa und Nordamerika eingeführt wurden. Zudem ist die Armut hoch. Die meisten Arbeitskräfte sind daher nicht in der Lage, regelmäßig Beiträge zu entrichten. Während in den meisten Entwicklungsländern irgendeine Form von Sozialversicherungssystem existiert, viele davon in den 1950er Jahren entwickelt, bleibt die Abdeckungsrate in den meisten Fällen sehr niedrig. Beispielsweise zahlen in Lateinamerika nur 40 Prozent der derzeitigen Arbeitskräfte ins Rentensystem ein – trotz großer Bemühungen der Regierungen, die Abdeckung zu verbessern.

Soziale Renten sind offensichtlich ein Weg, diese Lücke zu füllen. Bis zu einem gewissen Grad hat die Fachwelt das auch erkannt. Aber meist sieht sie soziale Renten nur als Vorstufe zu einer universalen beitragsfinanzierten Sozialversicherung. Es ist ein Rätsel, warum das so sein sollte. Auch zahlreiche weiter entwickelte Länder haben sich nie zu einer beitragsfinanzierten Sozialversicherung entschlossen. Beispielsweise besteht das neuseeländische Rentensystem prinzipiell aus einer Universalrente für jeden über 65 mit zusätzlichen Ansparungen in einem separaten System – und es verursacht keineswegs immense Kosten. Das Land gehört zu jenen mit den niedrigsten Rentenausgaben in der OECD und hat gleichzeitig eine der niedrigsten Altersarmutsraten. Möglicherweise sind soziale Renten nicht nur eine Vorstufe zum normativen Modell sozialer Sicherung, sondern ein erster Schritt hin zu einem anderen Modell.

 

Was muss getan werden?

Wir hoffen alle, einmal alt zu werden. Alt zu werden ist ein allgemeiner menschlicher Wunsch und soziale Absicherung im Alter ein Menschenrecht. Mit sozialen Sicherungssystemen können Staaten ihrer Verantwortung näherkommen, Mindeststandards wirtschaft­licher, sozialer und kultureller Rechte umzusetzen. Gleichzeitig haben soziale Renten das Potenzial, zur Entwicklung der gesamten Gesellschaft beizutragen.

Soziale Renten sind per Definition Programme, die von der Regierung implementiert und finanziert werden. Manch einer mag daraus schließen, dass die Rolle externer Akteure minimal ist. Die Erfahrung von Help­Age International in diesem Bereich zeigt aber, dass es verschiedene Möglichkeiten für nicht-staatliche und internationale Akteure gibt, diesen Prozess zu unterstützen und zu beeinflussen. Sie können zum Beispiel technische Unterstützung anbieten, um soziale Rentensysteme zu entwickeln, umzusetzen oder ihre finanzielle Machbarkeit zu prüfen. Gleichzeitig braucht die Zivilgesellschaft Unterstützung, um politisch Einfluss nehmen und von ihren Regierungen die versprochenen Leistungen einfordern zu können.

 

Charles Knox-Vydmanov ist Social Protection Policy Adviser bei HelpAge International.
cknox@helpage.org

 

 

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