Kommentar

Manipuliertes Ergebnis

Die venezolanische Regierung hat bei den jüngsten Parlamentswahlen höchstens 49 Prozent der Stimmen, aber fast 60 Prozent der Sitze gewonnen.

[ Von Klaus Schaeffler ]

Am 26. September waren in Venezuela 17,5 Millionen registrierte Wähler dazu aufgerufen, 165 Abgeordnete der Nationalversammlung und zwölf Mitglieder des lateinamerikanischen Parlaments (Parlatino) zu wählen. 66 Prozent gaben ihre Stimmen ab, eine für Parlamentswahlen in Venezuela hohe Wahlbeteiligung.

Die Regierungsparteien PSUV (Partido Socialista Unido de Venezuela) und die kommunistische Partei erzielten laut amtlichem Endergebnis zusammen 49 Prozent der gültigen Stimmen, der oppositionelle demokratische Zusammenschluss MUD (Mesa de la Unidad Democrática) und die PPT (Patria para Todos) 51 Prozent. Unabhängige Beobachter vermuten, dass der tatsächliche Stimmenanteil der Oppo­sition noch höher lag.

Im Wahlkampf nutzten die Regierungsparteien die zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel. Eine Woche vor den Wahlen kamen öffentliche Fernseh- und verschiedene Radiosender für Wahlpropaganda zum Einsatz. Ein Wahlkampffinanzierungsgesetz gibt es in Venezuela nicht. Das Wahlregister wurde unter Verschluss gehalten.

Die oppositionellen Parteien errangen einen wichtigen, wenn auch knappen Wahlsieg, nachdem sie in den letzten fünf Jahren auf Grund ihrer Nichtteilnahme an den Parlamentswahlen von 2005 nicht mehr in der Nationalversammlung vertreten waren. Sie hatten die Wahlen boykottiert, weil faire Bedingungen nicht gewährleistet waren.

Die Stimmenmehrheit der Oppositionsparteien schlägt sich nun allerdings nicht in der Mehrheit der Mandate nieder. Wegen neu zugeschnittener Wahlkreise wird sie nur 67 von 165 Parlamentariern stellen, während den Regierungsparteien98 Sitze zugesprochen wurden.

Die Diskrepanz zwischen den Wählerstimmen und der Aufteilung der Parlamentssitze zeigt deutlich, dass das Wahl­system gelenkt ist. Hätten die alten Wahlkreisgrenzen noch gegolten, hätte die ­Oppo­sition nach Expertenberechnung 83 Sitze und die Regierung 82 Sitze bekommen.

Die venezolanische Verfassung von 1999 garantiert in ihrem Artikel 63 die proportionale Repräsentation. Dennoch änderte die Regierung im Vorfeld der Wahlen in Zusammenarbeit mit der Nationalver­sammlung, dem Wahlgericht und den Jus­tizorganen die Spielregeln. Es entstanden viele sichere Wahlkreise für die Regierungsparteien, wobei ländliche und dünn besiedelte Gegenden nun im Parlament stark überrepräsentiert sind.

Die Zweidrittelmehrheit im Parlament hat die Regierung indessen verfehlt. Sie wird sich also bei der Ernennung von Richtern des Obersten Gerichtshofes, des Generalstaatsanwalts oder des Präsidenten des Rechnungshofes sowie bei wichtigen Gesetzen mit der Opposition einigen müssen.

Das neue Parlament wird am 5. Januar konstituiert. Bis dahin wird die Nationalversammlung in ihrer alten Zusammensetzung tagen; so lange hat die Regierung die Möglichkeit, ihre sozialistische „bolivarische Revolution des 21. Jahrhunderts“ weiter voranzutreiben.

Der venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez kommentierte vor den Wahlen, er werde seine Revolution ab dem 27. September beschleunigen. So hat er die Möglichkeit, von der Nationalversammlung ein Ermächtigungsgesetz zu erhalten oder bereits konzipierte administrative Parallelstrukturen durchzudrücken, welche die venezolanische Verfassung vollends zu einem wertlosen Papier machen würden. Mittels neu ins Leben gerufener Institutionen wird Chávez versuchen, mögliche parlamentarische Hindernisse in Zukunft zu umgehen.

Venezuela ist ein sozial tief gespaltenes Land. Chávez geriert sich geschickt als Held der Armen, was seiner Koalition nach wie vor erhebliche Stimmanteile sichert, wenngleich mit sinkender Tendenz. Die Opposition hat sich bisher schwer damit getan, durch eigene sozialpolitische Initiativen Brücken zur unteren Hälfte der Bevölkerung zu bauen. Sie argumentiert verfassungsrechtlich richtig, was jedoch nicht genügt. Ihre Wahlsiege in den bevölkerungsreichen Teilstaaten, in denen sie die Gouverneure stellt, zeigten deutlich, dass nur konstruktive Antworten auf die brennenden sozialen Fragen Mehrheiten schaffen und dem Präsidenten mit seinen autoritären Tendenzen Einhalt gebieten können.

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