Migration

Erfahrung einer Migrantin in der Bundesrepublik der 1960er-Jahre

Nassir Djafaris Roman „Mahtab“ berichtet von einer iranischen Migrantin, die sich im Frankfurt der späten Sechzigerjahre zunehmend gut zurechtfindet. Eine Stärke des Buchs ist, dass es nicht nur die individuelle Entwicklung der Protagonistin beschreibt, sondern nebenbei auch andeutet, wie sehr sich die Mainmetropole in diesen Jahren veränderte. Dieser Beitrag ist der fünfte unseres diesjährigen Kultur-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
Student protest in Frankfurt in 1969. dpa/picture-alliance/dpa Student protest in Frankfurt in 1969.

Mahtab ist eine Frau aus dem Iran, die als Krankenschwester arbeitet. Seit etwa einem Jahrzehnt lebt sie mit Mann und Kindern in Deutschland. Ihr Ehepartner Amin betreibt mit großen Hoffnungen, aber mäßigem Erfolg einen kleinen Laden. Sie ist Ende 30. Der jüngste Sohn ist in Frankfurt geboren, die Tochter und der ältere Sohn kamen noch in der alten Heimat zur Welt.

Mahtab konzentriert sich ganz auf die Familie. Nach Schichtende eilt sie nach Hause, um sich um die Kinder zu kümmern. Sie hält Distanz zu ihren Kolleginnen, die sich sehr für ihr Aussehen zu interessieren scheinen und dafür, wie sie auf Männer wirken.

Ihre Familienmitglieder lassen sich stärker auf die Außenwelt ein als Mahtab. Amin hört Kurzwellenradio und verfolgt, was unter dem Schah im Iran, aber auch in anderen Ländern der sogenannten Dritten Welt passiert. Er flirtet gern mit deutschen Frauen, was Mahtab ärgert. Die hartnäckige Aufmerksamkeit, die ihr ein Arzt im Krankenhaus schenkt, findet sie befremdlich, wenn auch zugleich faszinierend.

Die Kinder besuchen deutsche Schulen und orientieren sich an ihrer jeweiligen Altersgruppe. Azadeh, die 21-jährige Tochter, ist besonders eigensinnig und nimmt sich mehr Freiheiten, als der Mutter angebracht scheinen. Die Eltern legen Wert auf Bildung, damit der Nachwuchs es einmal besser haben wird.

Im ersten von 27 Kapiteln stecken die Eltern in einem Stau fest, den eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg ausgelöst hat. Überrascht entdeckt Mahtab ihre Tochter, begleitet von einem jungen Mann, in der Menge. Daraufhin verbietet die Mutter Azadeh, allein auszugehen, muss aber bald feststellen, dass sie das Leben der jungen Frau nicht mehr kontrollieren kann.

Frankfurt in den Sechzigerjahren

Mahtab missfällt Azadehs Minirock, aber ihr ist nicht klar, dass es vielen deutschen Müttern ebenso geht. Als Außenseiterin merkt sie nicht, wie sehr sich die deutsche Gesellschaft verändert, in der sie sich zurechtfinden muss. Djafaris Roman durchziehen jedoch lauter kleine Andeutungen auf den Wandel Frankfurts in den 1960er-Jahren.

Damals wurde die U-Bahn gebaut, sodass ständig weite Teile der Innenstadt gesperrt waren. Die Konsumgesellschaft blühte auf, die Leute kauften Waschmaschinen, Fernseher und Autos. Die Antibabypille änderte die Sexualmoral, und außereheliche Beziehungen waren nicht mehr so skandalös wie zuvor. Jugendliche wurden rebellisch. Sie protestierten gegen den Vietnamkrieg und andere Eingriffe westlicher Regierungen in die Politik ehemaliger oder noch bestehender Kolonien, wobei sie die Gewaltherrschaft dort mit der Nazivergangenheit verglichen. Selbstverständlich änderte auch die Migration Frankfurt, denn die Stadt wurde zur multikulturellen Metropole.

Mahtab denkt über all das nicht nach. Sie hat viele andere Sorgen. Als ihr Mann offenbar eine Affäre mit einer Mitarbeiterin beginnt, beschließt sie, mit den Kindern die gemeinsame Wohnung zu verlassen. Sie flieht zu einer älteren Bekannten, die sie zuvor im Krankenhaus als Patientin versorgt hat. Azadeh nutzt das Chaos, um zu ihrem Freund zu ziehen. Mahtab denkt, sie ist bei Amin, der sie wiederum bei Mahtab wähnt. Die Wiedervereinigung der Familie beginnt mit der Suche nach der Tochter.

Unter dem Einfluss der älteren Freundin ist Mahtab inzwischen selbstständiger geworden. Sie hat nun ein eigenes Bankkonto und nimmt Schwimmunterricht. Bei ihrem ersten Besuch im städtischen Schwimmbad, zu dem sie die Freundin überredet hatte, fühlte sie sich im neuen Badeanzug noch peinlich nackt. Die Migrantin findet sich in Frankfurt zunehmend gut zurecht und sieht sich nicht mehr so stark an die strengen Geschlechterrollen ihrer Kindheit gebunden.

Nassir Djafari kam im Alter von vier Jahren mit seiner Familie aus dem Iran nach Deutschland. Als Ökonom arbeitete er lange für die KfW Entwicklungsbank. Er hat mehrere Fachbeiträge für E+Z/D+C verfasst. Mahtab ist sein zweiter Roman. Der erste behandelte eine Vater-Sohn-Beziehung in der Krise.

Buch
Djafari, N., 2022: Mahtab. Bremen, Sujet Verlag.

Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z /D+C.
euz.editor@dandc.eu

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