Kinderarmut

Die harte Realität obdachloser Kinder in Brasilien

Obdachlosigkeit ist ein großes Problem in Brasilien, und es betrifft auch kleine Kinder. Ihre Rechte werden massiv verletzt.
Obdachlose Kinder erhalten ein Mittagessen in Brasília, Brasilien, 2020. picture-alliance/Xinhua News Agency/Lucio Tavora Obdachlose Kinder erhalten ein Mittagessen in Brasília, Brasilien, 2020.

Laut einer Studie des Institute of Applied Economic Research (Ipea) lebten 2022 mehr als 281 000 Obdachlose in Brasilien. Die Zahl ist seit 2019 infolge der Covid-19-Pandemie um 38 Prozent gestiegen. Die Mehrheit sind erwachsene Männer, aber auch jüngere sind betroffen. Offiziellen Statistiken zufolge sind etwa 6000 der obdachlosen Menschen in Brasilien jünger als 18 Jahre und mehr als 2000 jünger als fünf Jahre. Wahrscheinlich gibt es eine beträchtliche Dunkelziffer, sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern.

Wer auf der Straße lebt, hat nicht nur täglich mit Kälte, Hunger, Gewalt, mangelnder Hygiene und fehlender Struktur zu kämpfen, sondern sieht sich auch mit sozialer Stigmatisierung konfrontiert. Für große Teile der brasilianischen Gesellschaft sind Obdachlose unsichtbar.

Jungen obdachlosen Kindern fehlt oft ein intaktes Familienleben. Sie haben möglicherweise schwere Konflikte, Trennungen oder Vernachlässigung erlebt. Alleinerziehende Mütter, die mit ihren kleinen Kindern auf der Straße leben, flüchten beispielsweise oft vor häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch. Auch Drogenmissbrauch spielt eine wichtige Rolle. Außerdem gibt es unverhältnismäßig viele Schwarze Obdachlose, was die koloniale Vergangenheit Brasiliens und den daraus resultierenden strukturellen Rassismus widerspiegelt.

Armut ist der gemeinsame Nenner, der die Lebensgeschichten obdachloser Kinder verbindet. Ihre Familien haben oft kein angemessenes Einkommen und keinen Zugang zu Sozialversicherungsleistungen. Andere sind durch Naturkatastrophen vertrieben worden. Auch Covid-19 hatte massive Auswirkungen. Als die Pandemie die bereits angeschlagene brasilianische Wirtschaft traf, verloren viele Menschen ihre Arbeit und hatten Probleme, ihre Miete zu bezahlen. Viele fielen durch das soziale Netz. Soziale Organisationen stellten fest, dass die Zahl der Obdachlosen sprunghaft anstieg, darunter auch Familien mit kleinen Kindern.

Städtische Armut

Viele obdachlose Kinder leben in Städten. In Brasiliens größter Stadt, São Paulo, ergab eine Zählung der Stadtverwaltung im Mai 2022, dass 3700 Kinder und Jugendliche auf der Straße leben. Laut der Erhebung betteln 73 Prozent von ihnen um Geld oder arbeiten, um zu überleben. Die meisten von ihnen finden nachts einen überdachten Schlafplatz. Etwa zehn Prozent müssen jedoch die Nacht auf der Straße verbringen.

Ein Leben unter solchen Bedingungen verletzt die Rechte dieser Kinder massiv. Das bestätigt eine Umfrage, die die NGO Visão Mundial (in anderen Teilen der Welt bekannt als World Vision) 2017 veröffentlicht hat. Sie wurde mit 586 Kindern und Jugendlichen im Alter von zwei bis 17 Jahren durchgeführt, die von verschiedenen Organisationen betreut wurden.

In der Studie wurden Themen wie Wohlbefinden, Ernährung, Missbrauch, Kinderarbeit, früher Kontakt mit Drogen und kriminelle Handlungen untersucht. Die Daten zeigen, dass mehr als die Hälfte der Kinder im Alter zwischen zwei und sechs Jahren eine extreme Verletzung ihrer Rechte erlebt. Von den Kindern im Alter zwischen sieben und elf Jahren gab mehr als ein Drittel an, Gewalt erlitten zu haben.

Die Studie kam unter anderem zu dem Schluss, dass die Kinder und Jugendlichen

  • physisch und psychisch missbraucht wurden,
  • leichten Zugang zu Drogen hatten,
  • unter Ausbeutung durch Kinderarbeit litten und
  • teils nicht zur Schule gingen.
     

Wirkungslose Politik

Nancy Amaral ist Sozialarbeiterin und Vormundschaftsberaterin bei Reference Centres for Social Assistance (CRAS), einer staatlichen Einrichtung für soziale Grundsicherung. Ihrer Meinung nach gehören zu den Hauptfaktoren, weshalb Kinder in Brasilien auf der Straße leben, Armut, Gewalt, Missbrauch und dysfunktionale Familien, aber auch eine ineffektive Wirtschaftspolitik und ein Mangel an pädagogischer Unterstützung und Aufsicht durch den Staat.

Amaral erläutert, dass junge obdachlose Kinder unter einer verzögerten körperlichen und psychischen Entwicklung litten, verursacht unter anderem durch Hunger, Ausbeutung, Drogenkonsum und ein hohes Maß an Stress. „Aufgrund der psychologischen, sozialen und schulischen Folgen werden diese Kinder ein Leben lang traumatisiert sein“, sagt sie. Gleichzeitig zeigten viele von ihnen eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit. „Obwohl sie in einem ex­trem verletzlichen Zustand leben, scheinen sie in der Lage zu sein, sich eine Zukunft vorzustellen, und Wege zu finden, sich in der Welt zurechtzufinden“, sagt Amaral.

Im Dezember 2023 startete die Regierung Lula einen nationalen Unterstützungsplan für Obdachlose. Im Rahmen des Programms sollen rund 1 Milliarde brasilianische Real (etwa 200 Millionen Dollar) für Nahrungsmittel, Gesundheit und Wohnraum bereitgestellt werden. Dazu gehören auch Kampagnen gegen die Diskriminierung von Obdachlosen und Projekte zur Integration in den Arbeitsmarkt. Sowohl regionale und kommunale Behörden als auch zivilgesellschaftliche Organisationen sollen einbezogen werden.

Kritiker*innen bemängeln jedoch, dass die Pläne der Regierung die Ursachen für die schlimme Lage der Obdachlosen nicht ausreichend berücksichtigten. Damit deutlich weniger Kinder auf der Straße leben, müsse der brasilianische Staat seine Präventionsbemühungen verstärken, so die Sozialarbeiterin Amaral. Mehr Familien müssten in Sozialversicherungsprogramme aufgenommen werden und Zugang zu Wohnraum und Bildung erhalten.

Nach Ansicht von Amaral sollte der Staat auch zuverlässigere Daten über obdachlose Kinder erheben, damit wirksamere Maßnahmen und Strategien folgen können – um sicherzustellen, dass die Kinder die Versorgung erhalten, die sie verdienen.

Thuany Rodrigues ist Journalistin und lebt in Rio de Janeiro.
thuanyrodriigues@gmail.com

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