Inklusion

Mehrwert für alle

Inklusion ist kein Nischenthema: Weltweit leben mehr als eine Milliarde Menschen mit Behinderungen, das ist rund ein Siebtel der Weltbevölkerung. Die Bedingungen für Inklusion – auch in der Entwicklungszusammenarbeit – haben sich in den vergangenen Jahren verbessert. Zudem hat sich gezeigt, dass inklusive Projekte einen Mehrwert für die ganze Gesellschaft bieten. Trotzdem ist Inklusion noch nicht ausreichend als Querschnittsthema etabliert.
Diese Wasserpumpe in Bangladesch können auch Rollstuhlhfahrer erreichen. CBM Diese Wasserpumpe in Bangladesch können auch Rollstuhlhfahrer erreichen.

Rund 80 Prozent der Menschen mit Behinderungen leben in Entwicklungsländern, und überproportional viele gehören zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen. Das ist kein Zufall – der Kreislauf aus Armut und Behinderung ist seit langem bekannt. Menschen, die in individueller Armut oder in armen Ländern leben, leiden häufig unter schlechten Arbeitsbedingungen, Mangelernährung, miserablen hygienischen Verhältnissen und fehlender medizinischer Versorgung. Diese Faktoren begünstigen Krankheiten und (vermeidbare) Behinderungen.

Gleichzeitig sind Menschen mit Behinderungen und ihre Familien auf vielfältige Weise vom wirtschaftlichen und sozialen Leben ausgegrenzt. Sie haben höhere Gesundheitsausgaben, seltener Zugang zu Bildung und sind häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen. So verschärfen Behinderungen das Armutsrisiko weiter. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen muss Ziel aller entwicklungspolitischen Bemühungen sein. Denn darunter leiden nicht nur einzelne Betroffene – auch die gesamtgesellschaftlichen Folgen sind erheblich.

Eine Studie der Weltbank aus dem Jahr 2004 zeigt, dass Exklusion der Gesamtwirtschaft schadet. Humankapital wird nicht ausgeschöpft, individuelle und nationale Produktivität sind geringer, dem Staat entgehen Steuereinnahmen, Haushaltskosten sind erhöht. Anderen Untersuchungen zufolge ergibt sich daraus weltweit ein Verlust von fünf bis sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Eine im Jahr 2014 vom International Centre for Evidence in Disability (ICED) an der London School of Hygiene and Tropical Medicine veröffentlichte Studie macht noch deutlicher, dass der Ausschluss von Menschen mit Behinderungen aus wichtigen Lebensbereichen erhebliche Kosten verursacht. In Bangladesch etwa gehen der Wirtschaft durch Lohneinbußen, die auf einen geringeren Bildungsstand von Menschen mit Behinderungen und ihrer Betreuungspersonen zurückzuführen sind, schätzungsweise rund $ 54 Millionen pro Jahr verloren. Dem philippinischen Staat entgehen allein durch die hohe Arbeitslosenrate unter Menschen mit nicht operierter Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte jährlich Steuereinnahmen zwischen $ 8 und $ 9,8 Millionen.

Auch aufgrund dieser Erkenntnisse haben sich die Rahmenbedingungen für inklusive Entwicklung in den vergangenen Jahren verbessert. Die 2006 verabschiedete Behindertenrechtskonvention verpflichtet die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen in alle internationalen Entwicklungsprogramme und humanitären Maßnahmen bei Naturkatastrophen und Konflikten mit einzubeziehen.

Ein weiterer großer Schritt war die Verabschiedung der 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung durch die UN im vergangenen Jahr. Die Agenda richtet sich gegen jegliche Diskriminierung und berücksichtigt erstmals Menschen mit Behinderungen ausdrücklich. Damit sie in der Praxis Erfolg hat, sind nicht nur Regierungen bei der Umsetzung gefordert. Auch zivilgesellschaftliche Organisationen müssen dafür sorgen, dass sich das tägliche Leben von Menschen mit Behinderungen wirklich verbessert. Noch schließen viele Geber, Hilfswerke und NGOs in ihrer Arbeit Menschen mit Behinderungen ungewollt aus: Wenn Sanitäranlagen nicht barrierefrei sind, profitiert nur ein Teil der Bevölkerung von ihrem Bau.

Es reicht jedoch nicht, lediglich eine neue Zielgruppe in den Blick zu nehmen. Vielmehr müssen Menschen mit Behinderungen als Akteure in alle Maßnahmen eingebunden werden: von der Entwicklung über die Implementierung bis hin zum Monitoring und zur Evaluation. Es sind keine teuren Studien notwendig, um behinderte Menschen im Projektumfeld ausfindig zu machen. Es gibt sie in jeder Gemeinschaft. Um auf ihre Expertise zurückzugreifen, reicht es oft, sich mit Experten vor Ort zu vernetzen und die richtigen Fragen zu stellen.
Selbsthilfegruppen und Interessenvertretungen sind besonders gute Informationsquellen, um herauszufinden, wo Menschen mit Behinderungen leben und welche Unterstützung sie benötigen. Darüber hinaus können sie Empfehlungen für die richtige Ansprache und einen angemessenen Umgang geben. Das kann von Kulturkreis zu Kulturkreis variieren. Weitere Anlaufstellen sind Ministerien und Verwaltungen, Krankenhäuser, Sozialstationen sowie Schulen. Auch Kirchenvertreter wissen oftmals von Menschen mit Behinderungen in ihrer Gemeinde. In jedem Fall ist es hilfreich, sich mit den Begrifflichkeiten rund um das Thema Behinderung vertraut zu machen, vor allem in der lokalen Sprache.

Im alltäglichen Umgang ist es wichtig, behinderte Menschen als selbstbestimmte Individuen wahrzunehmen und zu behandeln. Noch steht zu oft ihre Hilfsbedürftigkeit im Mittelpunkt. Daher sollte immer als Leitlinie gelten: Beurteile die Menschen nach dem, was sie können – und nicht nach dem, was sie nicht können. Und schaffe dann die Rahmenbedingungen, damit sie ihr Potenzial bestmöglich ausschöpfen können.


Überwindung von Barrieren

Menschen mit Behinderungen begegnen vielen Hindernissen. Besonders deutlich wird dies bei Naturkatastrophen und Konflikten. Ein gehörloses Kind hat bei einem Tsunami kaum eine Chance zur Flucht, wenn nur Sirenen vor der Gefahr warnen. Eine blinde Frau kann keine Notunterkünfte oder Ausgabestellen für Nahrungsmittel finden, wenn lediglich Hinweiszettel den Weg weisen. Ein Rollstuhlfahrer kann Hilfseinrichtungen nicht nutzen, wenn sie nur über Stufen erreichbar sind. Deswegen sollte jede Organisation im Bereich der humanitären Hilfe Barrierefreiheit berücksichtigen. Denn davon profitieren auch andere: Analphabeten von Lautsprecherdurchsagen als Ergänzung zu schriftlichen Hinweisen, alte Menschen und kleine Kinder von einer Rampe zusätzlich zur Treppe.

Auch im Alltag ist Barrierefreiheit Grundlage für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Das gilt für die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, den Zugang zu Schulen und Arbeitsplätzen sowie Behörden. Dabei geht es nicht nur um den Bau von Rollstuhlrampen, sondern auch um die Ausstattung von Schulen mit Lehrmaterial für Kinder mit Sehbehinderungen oder die Schulung von Verwaltungsmitarbeitern für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen.

Sensibilisierung und Aufklärung können ebenfalls Zugänge schaffen und die Situation von Menschen mit Behinderungen verbessern. Denn wenn sich Einstellungen ändern, lassen sich viele Hindernisse leichter überwinden. Seit dem vergangenen Jahr schult die CBM gemeinsam mit lokalen Partnern regionale Behörden in Sri Lanka für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Das von der EU geförderte Projekt zeigt bereits erste Erfolge: Im Distrikt Batticaloa hat die lokale Regierung eine eigene Budgetposition eingerichtet und neue Angebote für Menschen mit Behinderungen entwickelt. Dazu gehören ein auf ihre Bedürfnisse zugeschnittener öffentlicher Leseraum sowie eigene Stände auf dem lokalen Markt, an denen sie ihre Produkte verkaufen können. So haben sie besseren Zugang zu Bildung und Arbeit und damit Chancen auf ein selbstständiges Leben.

Inklusion gelingt dann, wenn sie von Politik und Zivilgesellschaft als wichtiges Querschnittsthema wahrgenommen und in allen Entwicklungsprojekten mitgedacht wird. Es ist an der Zeit, dass das geschieht. Eine Milliarde Menschen mit Behinderungen dürfen nicht weiter außer Acht gelassen werden.


Rainer Brockhaus verantwortet seit 2009 als Geschäftsführer die Bereiche Kommunikation und Programme der Christoffel-Blindenmission Deutschland e.V. (CBM).
rainer.brockhaus@cbm.de
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