Gesundheitsdienste

Gute Versorgung für alle

In vielen Ländern ist das öffentliche Gesundheitswesen schlecht und versorgt nur die Armen. Alle anderen nutzen private Dienste, die kaum kontrolliert werden. Weder den Armen noch den Reichen ist damit gedient. Ein gemeinsames Vorgehen ist nötig, um die Versorgung und die staatliche Kontrolle zu verbessern und die Institutionen zu stärken.
Indigene Frauen demonstrieren im August 2019 in Brasília für eine bessere Gesundheitsversorgung. Eraldo Peres/picture-alliance/AP Photo Indigene Frauen demonstrieren im August 2019 in Brasília für eine bessere Gesundheitsversorgung.

Die Lebenserwartung steigt weltweit, und auch im globalen Süden wird nicht mehr nur eine kleine Elite immer älter. Aufgrund dieser Entwicklung sind seit Anfang dieses Jahrhunderts die chronischen, nicht infektiösen Gesundheitsprobleme der alternden Bevölkerungen zunehmend in die globale Gesundheitsdebatte eingegangen. Dazu gehören chronische Atemwegs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes, Niereninsuffizienz, psychische und neurologische Probleme sowie Abhängigkeitserkrankungen (siehe Beiträge von Jeffrey Moyo im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Paper 2020/03 und von Max Klein in der Tribüne des E+Z/D+C e-Papers 2020/02).

Das Angebot an medizinischen Leistungen hat sich für viele Menschen rasant vermehrt. Denn die Verstädterung erreicht einen immer größeren Anteil der Weltbevölkerung, und in den Städten bietet sich in der Regel eine große Bandbreite an privaten Gesundheitsdienstleistern. Diese sind allerdings kaum staatlich reguliert, und Patienten und ihre Angehörige stehen ihnen häufig hilflos gegenüber.

Deutlich wird dies zum Beispiel in Bangladesch. Noch vor 20 Jahren fuhren wohlhabende Bangladescher bevorzugt ins indische Kalkutta, um sich dort in privaten Krankenhäusern behandeln zu lassen. Heute gibt es eine große Zahl privater Kliniken und Dependancen von Krankenhauskonzernen in den großen Städten des Landes. Sie finden ihre Klientel, es mangelt aber oft an hinreichender Qualitäts- und auch Preiskontrolle dieser Anbieter.

Ein großes Problem stellen die Kosten der medizinischen Dienstleistungen dar. Sie bringen nicht nur Arme, sondern oft auch etablierte Mittelklassefamilien um ihre gesamten Ersparnisse, etwa wenn Familienmitglieder auf kostspielige Krebstherapien oder dauerhafte Dialysebehandlungen angewiesen sind.

In diesem Zusammenhang werden seit langem vor allem die Kosten für Arzneimittel heiß diskutiert. Anfang des neuen Jahrtausends entzündete sich die Debatte an den hochpreisigen antiretroviralen Medikamenten zur langfristigen Therapie von Aids. Es bedurfte massiver Kampagnenarbeit, um die Regeln der Welthandelsorganisation (World Trade Organization – WTO) dahingehend zu ändern, dass Regierungen die Flexibilitäten des Patentrechts nutzen und Firmen Lizenzen für die Herstellung von Generika erteilen durften, wenn dies für die öffentliche Gesundheit nötig war. Diese Entscheidung fiel auf dem WTO-Gipfel 2001  in Doha, nachdem Brasilien und andere Länder vorgeprescht waren und Generika produziert hatten, indem sie eine umstrittene Ausnahmeregelung der WTO genutzt hatten.

2002 kamen die Medikamente gegen HIV/Aids auf die Modellliste der unentbehrlichen Medikamente der Weltgesundheitsorganisation (World Health Organization – WHO), die bis dahin keine patentgeschützten Medikamente enthalten hatte. Zusammen mit neuen Finanzmitteln von mehreren Organisationen machte das den Weg frei, um die nötigen Ressourcen für die Behandlung von HIV-Infizierten bereitzustellen. Die Preise für Generika aus Thailand, Indien und Brasilien fielen schnell, und aufgrund des Wettbewerbs reduzierten auch die Patentinhaber ihre Preise. Inzwischen ist global die dauerhafte Behandlung von 24,5 Millionen Menschen möglich. Als die WHO zu Beginn des Millenniums das Ziel ausgab, bis 2005 3 Millionen Menschen in Therapie zu haben, schätzten die meisten Experten das noch als völlig unrealistisch ein.

Trotz dieser Erfolge sind die Versuche, den Profitinteressen der großen multinationalen Konzerne im Arzneimittelbereich durch Transparenz bei Preisen, Patenten und Forschungskosten entgegenzutreten, kaum erfolgreich. Erst bei der letzten Weltgesundheitsversammlung im Mai 2019 kam es zum heftigen Streit über eine entsprechende Resolution. Auch die deutsche Delegation bremste massiv, da nicht allein globale, sondern auch nationale Interessen betroffen sind. Denn hohe Arzneimittelpreise beziehungsweise Gesundheitskosten insgesamt sind nicht länger ein Problem der armen Länder. Bei Krebserkrankungen werden leicht sechsstellige Therapiekosten erreicht, und die ersten vielversprechenden Gentherapien für seltene Erkrankungen, die jetzt auf den Markt kommen, haben die Zwei-Millionen-Dollar-Marke (Kosten pro Patient und Jahr) kürzlich geknackt. Die zwischen Pharmaunternehmen und gesetzlichen Krankenkassen im deutschen System ausgehandelten „Rabatte“ bei vielen Arzneimitteln reduzieren zwar die Arzneimittelkosten punktuell für die deutschen Kassen. Sie sind aber gerade durch ihre Intransparenz ein schlechtes Gegenmodell zur international diskutierten Transparenzlösung, die auch kleineren und ärmeren Ländern bessere Verhandlungsbedingungen gegenüber den Herstellern schaffen würde.

In den globalen Diskussionen um ein „akzeptables“ Niveau der Basisgesundheitsversorgung (englisch Package of Care) stehen weiterhin die Infektionskrankheiten und die Mutter-Kind-Gesundheit an erster Stelle. Die Versorgung von chronischen Krankheiten, bei denen perspektivisch die größten Kosten durch dauerhafte Behandlungen anfallen, wird häufig auf präventive, zumeist verhaltensorientierte Interventionen reduziert. Dazu gehören beispielsweise die Reduzierung des Rauchens, eine Umstellung der Ernährung und mehr Bewegung.

Allgemeine Krankenversicherungen sollen die Kosten absichern. Damit entbindet sich aber die Gesundheitspolitik tendenziell der wichtigen Frage, wie das Recht aller Bürger – der armen wie der wohlhabenderen – auf eine gute Gesundheitsversorgung auch gegen die Interessen eines vornehmlich privaten und auf Profit ausgerichteten Geschäftssektors durchgesetzt werden kann. Die heftigen Debatten um die erfolgreiche WHO Framework Convention on Tobacco Control sind ein gutes Beispiel: Die Zucker- und Softdrinkindustrie hat daraus wesentlich gelernt und bislang erfolgreich eine ähnlich kohärente Kontrollstrategie in ihrem Bereich verhindert.


Mehr Medizin bedeutet nicht immer bessere Gesundheit

Eine kritische Haltung gegenüber der Gesundheitsbranche und ihren Produkten ist generell angezeigt. Skandale beispielsweise um die mangelnde Qualität von Brust­implantaten aus Silikon oder künstliche Hüftgelenke zeigen, dass „mehr Medizin“ nicht notwendigerweise bessere Gesundheit bedeutet. Gleichzeitig kommen Unter-, Fehl- und Überversorgung im deutschen Gesundheitswesen vor, wie der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen betont. Das macht deutlich, dass der Weg, mit einem „Package of Care“ die Gesundheitsversorgung für alle zu verbessern, kaum zum Ziel führen kann.

Wichtig sind hingegen eine konsequente Qualitätsverbesserung und die Kontrolle von Anbietern im Gesundheitswesen sowie eine systematische Stärkung der öffentlichen Versorgung. Heute versorgen öffentliche Gesundheitsdienste in vielen Ländern des globalen Südens nur noch die Armen mehr schlecht als recht, während alle anderen auf private, meist unregulierte Medizinangebote ausweichen. Damit ist weder der einen noch der anderen Gruppe gedient.

Die aktuelle Krise des brasilianischen öffentlichen Gesundheitssystems SUS macht dies besonders deutlich. Es fußt auf der Idee eines universell zugänglichen und kostenlosen Systems für alle Bürger und gilt als vorbildlich in seinen Versorgungsleistungen nicht nur im Basisgesundheits­bereich, sondern gerade auch im sekundären und tertiären Sektor. Während der ersten 15 Jahre des neuen Jahrtausends, in denen die Wirtschaft brummte und die linke Arbeiterpartei an der Macht die Gewinne aus hohen Rohstoffpreisen durch soziale Umverteilung weitergab, konnten sich viele Brasilianer private Zusatzversicherungen leisten. Die Einrichtungen der Grundversorgung wurden für die Gemeinden und das Gesundheitspersonal unattraktiv und ausgedünnt, während private Anbieter boomten.

Schließlich mussten tausende kubanische Ärzte angestellt werden, um die Versorgung der – immer noch zahlreichen – Armen zu sichern. Mit der Wirtschaftskrise seit 2015 verloren viele Menschen aus der neuen Mittelschicht ihre private Versicherung und sind wieder auf das SUS angewiesen. Gerade die Basisgesundheitszentren mit ihren innovativen multidisziplinären „Familiengesundheitsteams“ sind jedoch durch die radikale Sparpolitik der Regierung finanziell unter Druck geraten und bieten keine gute Versorgung mehr. Deshalb weichen immer mehr Patienten auf die nächsthöheren Versorgungsebenen, die Krankenhausambulanzen, aus, was diese weiter überfordert.

Dieses Beispiel macht deutlich, wie problematisch und kurzsichtig der scheinbar rationale Rückzug der öffentlichen Dienste auf die Versorgung der ärmeren Bevölkerungsteile ist, während die Besserverdienenden zu Kunden für die privaten Anbieter werden. Die politische Widerstandsfähigkeit gegen Budgetkürzungen in essenziellen sozialen Diensten nimmt in dem Maße ab, wie sich die politisch durchsetzungsfähigeren Akteure und Schichten von diesen Versorgungsstrukturen zurückziehen. Eine Gesundheitspolitik, die sich dem Mantra der Nachhaltigkeitsentwicklungsziele (Sustainable Development Goals – SDGs), niemanden zurückzulassen, verpflichtet fühlt, muss vor allem die tatsächliche Universalität der öffentlichen Gesundheitsdienste verteidigen – und nicht Spaltungen in Mehr-Klassen-Systeme vertiefen.


Andreas Wulf ist Berlin-Repräsentant und Gesundheitsreferent bei medico international.
wulf@medico.de

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