Partizipation

Arme außen vor

Die Nutzung digitaler Technologien verbreitet sich in Indien rasant – unterstützt von der Regierung. Millionen von Menschen nutzen Online-Dienstleistungen verschiedenster Art. In den ländlichen Gebieten ist die digitale Infrastruktur jedoch schlecht: Die Ärmsten sind nicht angebunden.
Schüler mit Smartphones in Kalkutta. Adhikary/picture-alliance/dpa Schüler mit Smartphones in Kalkutta.

In den frühen 1990er Jahren war es in Indien extrem schwierig, einen Platz im Fernzug zu reservieren. Heute kann der Fahrgast sogar seinen Wunsch-Liegeplatz über das Internet buchen. Eine Million Tickets werden täglich online verkauft. Damit ist die Webseite der indischen Bahn weltweit der größte Anbieter dieser Art. 2015 gab es in Indien 6,75 Milliarden elektronische Transaktionen im Zusammenhang mit staatlichen und öffentlichen Diensten.

Der Einsatz digitaler Technologien breitet sich rasend schnell aus. Bis Ende 2015 gab es in dem Land mit 1,2 Milliarden Menschen mehr als eine Milliarde Mobiltelefone. Rund 400 Millionen Menschen nutzten das Internet. Laut der indischen Telekom-Aufsichtsbehörde gibt es 131 Millionen Breitbandanschlüsse, der Internet- und Mobilfunkverband geht sogar von 197 Millionen aus. Die nationale Datenbank hat inzwischen biometrische Daten von 975 Millionen Bürgern gespeichert – das sind mehr als 75 Prozent der Bevölkerung. 138 Millionen Inder sind bei Facebook, 22 Millionen nutzen Twitter.

In den vergangenen zwanzig Jahren hat die Regierung verschiedene Maßnahmen zur wirtschaftlichen Liberalisierung von Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) umgesetzt. Heute können Inder ihre Geburts- und Sterbeurkunden, Führerscheine, Pässe und Grundbuchauszüge online erhalten. Sie können Steuern und Rechnungen elektronisch bezahlen, haben online Zugang zu ihren Konten bei Renten- und Pensionskassen und können sich auf den Webseiten der Regierungsbehörden über deren Aktivitäten informieren. Über das Direct-Benefit-Transfer-Programm überweist die Regierung armen Menschen ihre Leistungen direkt aufs Konto.

Im Privatsektor haben sich Banken und Versicherungen digitalisiert. Mehr als 200 Millionen Konten wurden im vergangenen Jahr anhand digitaler Technologien und Identifikationsdaten neu eröffnet. Dadurch sind Überweisungen schneller, und der Spielraum für Korruption ist erheblich kleiner geworden.

Die rechte Bharatiya Janata Partei (BJP), die im Mai 2014 unter Narendra Modi an die Macht kam, legt viel Wert auf den Einsatz von ICT in der Verwaltung. Unter dem Slogan „Digital India“ wirbt sie für die entsprechenden Programme. Außerdem nutzt sie die sozialen Medien für politische Propaganda und Imagebildung (siehe hierzu auch meinen Kommentar in E+Z/D+C e-Paper 2015/11).

„Digital India“ hat drei Hauptziele:

  • die Entwicklung eines Hochgeschwindigkeitsinternets als zentrale Infrastruktur für Dienstleistungen für Bürger,
  • alle Behördendienstleistungen online anzubieten und
  • die digitalen Kompetenzen der Bürger zu erhöhen und ihnen universellen Zugang zu digitalen Quellen zu verschaffen.

Dies sind sinnvolle Ziele. Allerdings bleibt unklar, wie, in welchem Zeitraum und mit welchen Geldern sie erreicht werden sollen. Bis 2017 plant die Regierung etwa, 250 000 Gemeindeverwaltungen mit einem Breitbandinternetzugang auszustatten – wie der Ausbau in der Fläche erreicht werden soll, ist jedoch unklar.


Ungleicher Zugang

Schlechte digitale Infrastruktur ist die größte Hürde, die Indien auf dem Weg zur Digitalisierung zu bewältigen hat. Angesichts der Massen von Mobiltelefonen wird das häufig übersehen. Beim Zugang zu digitalen Produkten und Dienstleistungen besteht weiterhin eine große – und vermutlich weiter wachsende – Kluft zwischen Stadt und Land und Arm und Reich. Die meisten Handy-Nutzer leben in Städten, wo es WiFi-Hotspots an öffentlichen Orten wie Bahnhöfen, Flughafen-Lounges und historischen Denkmälern gibt.

69 Prozent der indischen Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten, aber nur 40 Prozent der Handy-Nutzer. Der Anteil internetfähiger Mobilgeräte ist auf dem Land sogar noch geringer. Laut einem Bericht der Weltbank vom Dezember 2015 hat Indien mit 1,063 Milliarden Menschen die größte Offline-Bevölkerung der Welt, gefolgt von China, wo 755 Millionen keinen Internetzugang haben.

Experten verweisen jedoch darauf, dass viele Dienste auch ohne internetfähige Geräte nutzbar sind. „In den meisten E-Governance-Diensten sind stimm- und textbasierte Funktionen integriert, ein Smartphone ist daher nicht immer nötig“, sagt Osama Manzar, Direktor der gemeinnützigen Digital-Em­powerment-Stiftung in Neu-Delhi. „E-Services sind nicht auf mobile und individuelle Internetverbindungen begrenzt. Sie können auch von öffentlichen Servicecentern, Internetcafés und von NGOs bereitgestellten Zugangspunkten aus genutzt werden.“

Robin Jeffrey, Autor des 2013 erschienenen Buchs „Cell phone nation: how mobile phones have revolutionised business, politics and ordinary life in India“, sagt: „Mobiltelefone können helfen, Hürden des Analphabetismus und der Sprachenvielfalt zu überwinden. Das Schöne am Internet ist, dass es nicht über Sprache funktioniert, sondern über Bilder. Es kommt Analphabeten und jenen, die gerade erst gelernt haben, zu lesen, entgegen.“


Regierungsführung reformieren

Die Erfahrungen der vergangenen zwanzig Jahre zeigen: Nur wenn die internen Arbeitsprozesse der Regierung auf allen Ebenen – bis hin zu den Dorfräten – digitalisiert werden, kann E-Governance funktionieren. Subhash Bhatnagar vom Indian Institute of Management in Ahmedabad betont: „Die grundlegende Infrastruktur für Konnektivität und Datenspeicherung hat sich deutlich verbessert – das eigentliche Problem ist die Einstellung. Sowohl auf politischer als auch auf administrativer Ebene besteht kaum der Wunsch, die Bereitstellung von Dienstleistungen transparent und effizient zu machen.“

Auch variieren Bereitschaft und Implementierung in Bezug auf E-Governance in den verschiedenen Bundesstaaten stark. Die Umsetzung großer nationaler Projekte wird so zusätzlich erschwert. Sowmyanarayanan Sadagopan vom International Institute of Information Technology in Bangalore sieht die Kosten für die Technologien und den Mangel an technischem Know-how innerhalb der Regierung als weitere Herausforderung für das Nachbilden erfolgreicher Pilotprojekte an. „Für junge Leute sind die Gehälter im öffentlichen Dienst nicht attraktiv“, sagt er, „und die Regierung stellt keine Experten von außen ein.“


Wahres Empowerment

Die Regierung sieht digitale Technologien als Instrument zur Bürgerbeteiligung. Ministerpräsident Modi vertritt sogar die Meinung, heute förderten Technologien Bürgerbeteiligung und Demokratie, die ihre Kraft einst aus Verfassungen gezogen hätten. Experten warnen jedoch vor solchen Verallgemeinerungen. „Digitale Technologien sind lediglich ein Werkzeug und führen nicht automatisch zu Empowerment. Das sieht man zum Beispiel daran, dass sie im Westen, insbesondere von Jugendlichen, vor allem zur Unterhaltung genutzt werden. Digitale Technologien sind ein zweischneidiges Schwert“, sagt Nissim Mannathukkaren von der Dalhousie Universität in Halifax, Kanada.

Der bloße Zugang zu Mobiltelefonen, ohne zugleich besseren Zugang zu anderen grundlegenden sozioökonomischen Gütern zu haben, wie etwa zu Gesundheit, Bildung, sauberem Trinkwasser und sanitären Einrichtungen, verändert das Leben der Armen nicht grundlegend. Wie Menschen digitale Technologien nutzen und nutzen können, hänge von Lese- und anderen Fähigkeiten ab, betont Mannathukkaren. Seiner Ansicht nach ist Kerala der erste gänzlich digitale Bundesstaat in Indien, da er grundlegende Gesundheits- und Bildungsbedürfnisse seiner Bewohner noch vor Anbruch des digitalen Zeitalters weitgehend erfüllt hatte.

Laut Verwaltungswissenschaftler Bhatnagar bleibt Indiens ICT-Potenzial ungenutzt. So könnte etwa das Gesundheitswesen verbessert werden, wenn Ärzte und Krankenschwestern lernten, Videos für die Ausbildung zu verwenden und zu produzieren. Auch könnten sie Mobiltelefone nutzen, um Daten für Diens­te zu sammeln, die sie anbieten, und um in Notfällen Kontakt zu Spezialisten aufzunehmen. Innovative IT-Anwendungen für den Gesundheitsbereich werden entwickelt, stehen aber noch nicht für die breite Nutzung bereit.

Ein Beispiel für eine solche Innovation ist das Gesundheits-Tablet „Swasthya Slate“, das medizinisches Personal als mobiles Diagnosegerät verwenden kann. Der Ansatz ist vielversprechend. Damit die gesamte Nation davon profitiert, muss jedoch die Konnektivität auf dem Land verbessert werden. Außerdem müssen Dienstleistungen inklusiv mobiler Anwendungen in indischen Sprachen angeboten werden. „Swasthya Slate“ kann – außer auf Englisch – in drei indischen Sprachen verwendet werden.

„Um das digitale Indien zu erreichen, brauchen wir eine klare Priorisierung der Ziele, angefangen bei der Schaffung einer belastungsfähigen und sicheren Infrastruktur“, sagt Nirvikar Singh, Wirtschaftsprofessor an der University of California Santa Cruz. „Grundlegende Software-Anwendungen und Bildungsmaterial müssen entwickelt und in verschiedenen indischen Sprachen bereitgestellt werden.“


Dinesh C. Sharma ist Journalist in Indien und Fellow am Centre for Media Studies in Neu-Delhi. Er ist Autor des Buchs: „The outsourcer: the story of India’s IT revolution“, 2015, MIT Press.
dineshcsharma@gmail.com


Links:

„Digital India“-Internetseite:
http://www.digitalindia.gov.in/

Modi-Zitate zu „Digital India“:
http://www.narendramodi.in/9-quotes-from-pm-modi-s-digital-india-dinner-speech-in-san-jose-california-347118

Swasthya Slate:
http://www.swasthyaslate.org/


 

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