Binnenvertriebene

Flüchtlinge im eigenen Land

Seit 2009 terrorisiert Boko Haram den Nordosten Nigerias. Mehr als 10 000 Menschen starben, rund 2 Millionen sind auf der Flucht. Die Lebensbedingungen der Binnenflüchtlinge (Internally Displaced Persons – IDPs) sind schwierig. Während sich in einigen Landesteilen die Sicherheitslage verbessert hat und hunderttausende Menschen in ihre Heimatorte zurückkehren konnten, dauern die Angriffe in anderen Regionen an.
IDP-Lager in Bono State. picture-alliance/dpa IDP-Lager in Bono State.

Noch vor einem Jahr schien Atines Leben ruhig dahinzufließen. Das Mädchen aus Baga im Bundesstaat Borno besuchte die letzte Grundschulklasse. Atines Vater arbeitete in einer Fischräucherei. Ihre Mutter kümmerte sich um die vier Kinder und war erneut schwanger.

Die Bewohner der Stadt wussten von der Terrorgruppe Boko Haram. Aber Atines Familie fühlte sich sicher – schließlich hatte die multinationale Eingreiftruppe (Multinational Joint Task Force – MNJTF) mit Soldaten aus Nigeria, Niger und Tschad in Baga ihr Hauptquartier. Die Eingreiftruppe soll die grenzüberschreitende Kriminalität bekämpfen. Sie unterstützt aber auch den Kampf gegen Boko Haram.

Atines Welt brach im Januar 2015 zusammen. Boko Haram griff Baga an, tötete Bewohner, zerstörte Häuser und trieb die Überlebenden in die Flucht. „Die Männer wurden sofort erschossen, auch mein Vater“, berichtet Atine in ihrer Muttersprache Hausa. „Mein älterer Bruder wurde auch getötet. Wir rannten davon und schlugen uns drei Tage lang in der Wildnis durch, bis wir schließlich Maiduguri erreichten. Meine Mutter erlitt eine Fehlgeburt.“

Inzwischen lebt Atine mit ihrer Mutter in einem Flüchtlingslager in Kuchingoro, einem Viertel der Hauptstadt Abuja. Allerdings ist das Camp mit seinen rund 800 Bewohnern nicht offiziell von der Regierung ausgewiesen. In Abuja gibt es mehrere solcher Lager, die Vertriebene eigenmächtig auf freien Flächen errichtet haben.

Das Camp besteht aus behelfsmäßigen Hütten, die aus Planen, Plastikfolie und Blechdächern errichtet wurden. Die sanitären Bedingungen sind kläglich, es gibt keine Toiletten, und die Bewohner verrichten ihre Notdurft in Plastiktüten, die sie auf Müllhalden entsorgen. Es stinkt fürchterlich. Für das ganze Lager gibt es nur einen Brunnen.

Aus einem ähnlichen Flüchtlingslager in Oronzo, ebenfalls in Abuja gelegen, strömen jeden Tag mehrere Jungen auf der Suche nach Arbeit in die Stadt. Einer von ihnen, der 14-jährige Hassan, verrichtet Hilfsarbeiten auf einem nahe gelegenen Markt – für einen Hungerlohn, wie er berichtet: „Ich schleppe die Ladung für die Leute auf dem Markt. An manchen Tagen verdiene ich damit 500 Naira (rund 2,30 Euro), an guten Tagen 1000 Naira.“

Während die Camps in Abuja informell sind, hat die nigerianische Regierung für Menschen aus den sechs am stärksten von der Gewalt durch Boko Haram betroffenen Bundesstaaten offizielle Lager eingerichtet. Dort kommen IDPs unter, die innerhalb der Staaten Borno, Bauchi, Yobe, Taraba, Gombe und Adamawa auf der Flucht sind oder von dort vertrieben wurden. Es gibt vier offizielle Camps in Yola im Bundesstaat Adamawa und zwei in Damaturu im Bundesstaat Yobe. Weitere 28 Camps wurden in der Stadt Maiduguri eingerichtet. Viele informelle Lager, die offiziell als „Camp-ähnliche Einrichtungen“ bezeichnet werden, entstanden überall in den betroffenen und benachbarten Bundesstaaten.

Nach Angaben von Staatschef Muhammadu Buhari wurden in den vergangenen sechs Jahren mindestens 2 Millionen Menschen durch die Gewalt der Boko-Haram-Kämpfer vertrieben und mehr als 10 000 Menschen getötet. In dem von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der nigerianischen Behörde für Notfallmanagement (NEMA) ins Leben gerufenen Vertriebenen-Statistik (Displacement Tracking Matrix, DTM) waren Ende 2015 1 818 469 IDPs registriert. Allein in Borno waren es 1 434 149 Vertriebene.

Acht Prozent der IDPs leben in Flüchtlingslagern, die anderen sind innerhalb der Gemeinden, bei Freunden oder Verwandten untergekommen. Mehr als die Hälfte der IDPs sind Kinder. Der DTM zufolge gibt es 78 Camps oder Camp-ähnliche Einrichtungen. Die meisten der Lager befinden sich in Schulen oder Behördengebäuden. Das Leben dort ist hart, vor allem wegen der Überfüllung.

Der Statistik zufolge sind die Toiletten in 47 der Camps in schlechtem Zustand, in 10 sogar unbenutzbar. Viele Bewohner verrichten ihre Notdurft im Freien. Nur 19 Lager haben gute Sanitäranlagen. Der „DTM Nigeria Report Round VII“ von Dezember 2015 hat Malaria als das größte Gesundheitsproblem ausgemacht, gefolgt von Fieber, Husten, Durchfall, Mangelernährung, Atemwegsentzündungen und Hautkrankheiten. Zweiunddreißig der Lager haben kein Müllentsorgungssystem, in 63 Lagern fehlt ein gutes Abwassersystem.

Anfang 2015 berichtete ein Reporter des Internationalen Zentrums für investigative Berichterstattung (ICIR) nach Undercover-Recherchen von Vergewaltigungen und Menschenhandel in einigen IDP-Camps. Die Regierung setzte eine Untersuchungskommission ein, die zu dem Schluss kam, dass zwei Mädchen „möglicherweise vergewaltigt“ worden seien, dass es für die Anschuldigungen aber keine Beweise gebe.

Im DTM-Bericht von Oktober 2015 wird allerdings festgestellt, dass in vier Lagern Lebensmittel im Austausch für sexuelle Handlungen ausgegeben worden seien. In sechs Camps seien Kinder zu Arbeit und zum Betteln gezwungen worden. In acht Camps habe es Berichte über körperliche und seelische Misshandlungen von Kindern gegeben. Außerdem erwähnt der Bericht Festnahmen von NEMA-Mitarbeitern wegen des Verkaufs von Hilfsgütern, die für Vertriebene gedacht waren. Und obwohl es in den Lagern Sicherheitskräfte gibt, kam es in zwei Flüchtlingslagern in Yola im Bundesstaat Adamawa zu Explosionen. Zehn Menschen wurden getötet. Vermutlich gelangten Boko-Haram-Aktivisten als Flüchtlinge getarnt in die Lager.

Im Vergleich zu den offiziellen IDP-Lagern sind die inoffiziellen Camps stärker auf Spenden angewiesen. NGOs, Firmen, Geberorganisationen, religiöse Organisationen und Einzelpersonen spenden Lebensmittel und Medikamente, leisten humanitäre Hilfe und bieten Dienstleistungen an wie medizinische Untersuchungen und Beratung.

Zu Bildungseinrichtungen haben die Vertriebenen nur eingeschränkt Zugang. In den am schlimmsten von der Gewalt betroffenen Bundesstaaten sind viele Schulen seit anderthalb Jahren geschlossen. Laut UNICEF wurden seit 2009 mehr als 1200 Schulen von Boko Haram angegriffen. Internationale Schlagzeilen machte die Entführung von 276 Schulmädchen in Chibok im Bundesstaat Borno im April 2014. Noch wurden die Mädchen nicht befreit. So ist es verständlich, dass sich viele Schüler und Lehrer nicht in die wenigen noch geöffneten Schulen trauen.

Laut dem DTM-Bericht haben die Kinder nur in 40 der 76 offiziellen Vertriebenen-Camps Zugang zu Bildung. Außerhalb der Konfliktgebiete bieten NGOs kostenlosen Unterricht an. Für das Lager Kuchingoro, in dem Atine lebt, spendete die australische Regierung Stühle und Tische für die Schulklassen, die im Freien unter Bäumen zusammenkommen. Freiwillige aus der Frauengruppe der Evangelikalen Kirche Westafrikas (ECWA) unterrichten die Schüler. Bei Regen oder zu großer Hitze fällt der Unterricht jedoch aus.

Im November hat die nigerianische Regierung im Nordosten des Landes hunderte Schulen wiedereröffnet. Doch nur wenige Schüler sind in ihre Klassen zurückgekehrt. Es gibt weiterhin Boko-Haram-Angriffe, obwohl eine gemeinsame Offensive der Streitkräfte von Nigeria, Kamerun, Tschad und Niger die Terroristen schwächen und aus den meisten Gebieten im Nordosten zurückdrängen konnte.

Laut NEMA-Sprecher Sanni Datti richtet sich das offizielle Hilfsprogramm auch an Vertriebene außerhalb der regulären Camps. „Wenn sie registriert sind, auch in aufnehmenden Gemeinden, liefern wir auch ihnen Hilfsgüter“, sagt er. „Am meisten benötigen sie Lebensmittel, aber wir stellen auch Kleidung, Bettwäsche und andere Dinge zur Verfügung.“

Kürzlich kündigte die nigerianische Regierung an, die Flüchtlingslager aufzulösen und die Vertriebenen bei der Rückkehr in ihre Heimat zu unterstützen, unter anderem durch einen eigens für die Wiedereingliederung eingerichteten Fonds. Sie versprach den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur. Doch wenngleich viele Vertriebene zurückkehren wollen, fürchten sie weiterhin um ihre Sicherheit. Auch die Wirtschaft in der Konfliktregion liegt am Boden.

Laut DTM kehrten 320 000 Vertriebene in den Bundesstaat Adamawa zurück, wo sich die Sicherheitslage aufgrund einer verstärkten Militärpräsenz verbessert hat. Im August 2015 wurden 10 000 Nigerianer, die in Kamerun Zuflucht gesucht hatten, zurückgeführt. Einige kehrten in ihre Heimatorte in Adamawa zurück, andere wurden in IDP-Camps in Borno untergebracht.

Atine hofft auf ein normales Leben, aber nach Baga möchte sie nicht zurück: „Ich hätte zu viel Angst, weil dort mein Vater und mein Bruder ermordet wurden“, sagt das Mädchen. „Vielleicht können wir aus diesem Lager ausziehen und woanders in der Nähe von Abuja leben. Ich möchte nur weg von hier, hier sind zu viele Menschen.“


Damilola Oyedele ist leitende Korrespondentin für die nigerianische Zeitung „Thisday“. Sie lebt in Abuja.
damiski22@yahoo.com

Link:
DTM Nigeria Report Round VII:
http://nigeria.iom.int/sites/default/files/dtm/01_IOM%20DTM%20Nigeria_Round%20VII%20Report_20151223.pdf

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