Postkoloniale Misere

Wessen Entwicklung?

„Globale Entwicklung“ ist ein Standardbegriff im internationalen Diskurs. Er bedeutet – grob gesagt –, den Lebensstandard der Menschen zu heben. Forschende und Politiker*innen in ehemaligen Kolonien fragen jedoch gern: „Wessen Entwicklung?“ Denn letztlich sind die früheren Kolonialmächte immer noch privilegiert.
Politischer Aktivismus wirkt: Gewerkschaftsprotest in Seoul im Jahr 2023. picture-alliance/NurPhoto/Chris Jung Politischer Aktivismus wirkt: Gewerkschaftsprotest in Seoul im Jahr 2023.

Der unterschiedliche Werdegang „entwickelter“ und „unterentwickelter“ Volkswirtschaften hat historische Gründe. Postkolonialen Wissenschaftler*innen zufolge kamen die heutigen entwickelten Volkswirtschaften zu Reichtum, indem sie Ressourcen ihrer Kolonien ausbeuteten, von Sklaverei und Zwangsarbeit profitierten und mit Militärgewalt Handelsmonopole schufen. Das beförderte ihre wirtschaftliche Entwicklung, sabotierte aber die der Kolonien.

Auch nach der Unabhängigkeit blieb die wirtschaftliche und politische Macht ungleich verteilt. Die ehemaligen Kolonialmächte sind nach wie vor wohlhabender und haben international mehr Einfluss. Anders gesagt: Sie haben ihre Kolonien verloren, aber nicht ihre Privilegien.

Wie die Wissenschaftler Daron Acemoglu und James A. Robinson in ihrem Buch „Why nations fail“ darlegen, schufen die Europäer in vielen von ihnen kolonisierten Regionen sogenannte extraktive Institutionen. Diese maximierten den Abbau von Ressourcen zugunsten der imperialen Mächte und bestanden oft auch nach dem formellen Ende der Kolonialherrschaft fort.

Die postkoloniale Entwicklungskritik hinterfragt auch, ob die Errungenschaften der heutigen Industrienationen tatsächlich als Fortschritt zu sehen sind. Hinsichtlich einiger Kriterien für menschliches Wohlergehen gab es diesen zwar – allerdings auf Kosten anderer Völker und der Umwelt.

Die Klimakrise ist ein Beispiel dafür. Sie ist die größte Herausforderung der Menschheit und direkte Folge der rasanten Industrialisierung nach europäischem und nordamerikanischem Vorbild. In den etablierten Industrienationen lebt nur ein Bruchteil der Weltbevölkerung, der aber den Großteil der historischen CO2-Emissionen verursacht hat.

Wodurch entwickeln sich Länder?

Es gibt viele Meinungen dazu, was Regierungen, Entwicklungsorganisationen und Politiker*innen für die Lebensqualität eines Landes tun können. Der Werdegang der reichen Mitgliedsstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zeigt, dass historische, geografische, institutionelle und sozioökonomische Faktoren zusammenspielen. Viele dieser Länder haben sich schon früh industrialisiert, im 18. und 19. Jahrhundert. Technologische Innovationen und die Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen waren dafür wesentlich.

Die industrielle Revolution beschleunigte das Wirtschaftswachstum und die Urbanisierung drastisch. Günstige geografische Bedingungen spielten eine wichtige Rolle: fruchtbares Land, schiffbare Wasserwege für den Handel und Zugang zu Rohstoffen wie Kohle, Eisen und Holz. Die Expansion der europäischen Imperien vom 16. bis zum 20. Jahrhundert verhalf diesen nicht nur zu weiteren Ressourcen, sondern auch zu neuen Märkten und Arbeitskräften, wie postkoloniale Kritiker*innen bemerken.

Die Industrialisierung fußte somit auf dem Imperialismus. Es ist kein Zufall, dass die industrielle Revolution in England zu einer Zeit stattfand, in der die Sonne über dem britischen Empire nie unterging, da dessen Territorien über die ganze Welt reichten.

Andere Nationen erzielten im 20. Jahrhundert auf anderen Wegen Wachstum und hohe Einkommen. Ressourcenstarke Länder im Mittleren Osten wurden wohlhabend, indem sie ihre eigenen Ölindustrien etablierten. Ostasiatische und südostasiatische Länder stellten ihre Landwirtschaft um und nutzten den Export, um sich schnell zu industrialisieren. Einige, insbesondere auch China, entwickeln Wissensökonomien, die von Innovationen profitieren, etwa in den Dienstleistungssektoren.

Wissenschaftlicher Fortschritt und Aufbau von Institutionen

Auch technologischer Fortschritt war wichtig. Ihr Reichtum erlaubte es Europa und den USA, in wissenschaftliche Forschung zu investieren, was Fertigung, Verkehr, Kommunikation und Gesundheitswesen voranbrachte. Im späten 19. Jahrhundert hatten sich in den Industrieländern Hochschulen etabliert, die sich nicht auf Grundlagenforschung konzentrierten, sondern auf technologische Anwendungen.

Laut dem Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr legten intellektuelle Entwicklungen und kulturelle Veränderungen den Grundstein für das industrielle Wachstum. Die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts förderte empirische Beobachtung, Experimente und rationale Untersuchungen. Zusammen mit der vermehrten Verbreitung des Wissens war sie Mokyr zufolge die intellektuelle Basis für technologischen Fortschritt. Institutionen wie Universitäten, wissenschaftliche Gesellschaften und Akademien spielten eine große Rolle dabei, Ideen auszutauschen und neues Wissen zu schaffen.

Im Zuge der Industrialisierung erlebten viele Länder einen raschen institutionellen Wandel. Die Städteplanung entwickelte sich, und Infrastruktur wurde gebaut, etwa Eisenbahnen, Straßen, Wasserleitungen und schließlich Stromnetze. Grund- und später Sekundarschule wurden Pflicht. Um all das zu finanzieren, wurden die Steuern erhöht. Es entstanden soziale Sicherungssysteme, und repräsentative Regierungsformen wurden wichtiger. Neuerungen im Finanzsektor ließen das Kapital effizient fließen.

Was ließ diese Institutionen entstehen? In ihrem Buch „Macht und Fortschritt“ zeigen Acemoglu und Simon Johnson: Zwar führten technologische Durchbrüche zu höherer Produktivität und mehr Reichtum – aber Wohlstand verbreitete sich dort, wo politische Bewegungen dafür sorgten, dass Gewinne verteilt wurden. Gewerkschaften verbesserten das Leben der Arbeiterklasse maßgeblich. Die Autoren weisen aber auch darauf hin, dass progressiver Aktivismus vielerorts unterdrückt wurde. In den US-Südstaaten etwa führte die Sklaverei zu brutaler Ungleichheit. Acemoglu und Johnson zeigen, dass institutioneller Wandel durch kollektives politisches Handeln vorangetrieben wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war für Fachleute Entwicklung gleichbedeutend mit Wirtschaftswachstum. Man glaubte, Volkswirtschaften würden wachsen, wenn sie statt Rohstoffen und landwirtschaftlichen Grunderzeugnissen wie Nahrungsmitteln hochwertige Produkte herstellten. Welche Institutionen nötig sind, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen, wurde übergangen.

Warum das BIP Lebensqualität nur unzureichend abbildet

Der Fokus auf Wachstum wurde auch aus verschiedenen anderen Gründen kritisiert. So überzeugt etwa das Bruttoinlandsprodukt (BIP) nicht als Maß für Lebensqualität. Es ist definiert als Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die in einer Volkswirtschaft in einer bestimmten Zeit neu produziert werden – berücksichtigt aber etliche wichtige Waren und Dienstleistungen nicht, beispielsweise durch Subsistenzlandwirtschaft erzeugte Lebensmittel oder haushaltsbezogene Betreuungsleistungen für Kinder und ältere Menschen.

Das BIP ignoriert auch wichtige nichtmarktbezogene Aspekte eines guten Lebens wie saubere Luft, Grünflächen, Wissen, zwischenmenschliche Beziehungen und Freiheit von Gewalt. Dafür umfasst es auch Werkzeuge, Waffen und Technologien, die das menschliche Leben beeinträchtigen können.

Das BIP erfasst zudem nicht, wie der in einer Volkswirtschaft geschaffene Wert verteilt ist. Es berücksichtigt nicht, ob nur einige wenige profitieren oder die breite Bevölkerung. Auch ökologische und soziale Kosten der Wertschöpfung bleiben unbeachtet.

Die große Frage ist, wie in benachteiligten Teilen der Welt menschliches Wohlergehen nachhaltig und breit angelegt werden kann. Die Schwächen des Wachstumsparadigmas legen nahe, Entwicklung in einem weiteren Sinne zu fassen. Individuelle Freiheit ist relevant, aber auch ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. Der Nobelpreisträger Amartya Sen formulierte eine Idee der menschlichen Entwicklung, die darauf abzielt, für alle Menschen mehr Möglichkeiten für ein lebenswertes Leben zu schaffen (siehe Praveen Jha auf Seite 18). Der Index der menschlichen Entwicklung, der die Kriterien Bildung, Gesundheit und Einkommen berücksichtigt, sowie die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs – Sustainable Development Goals) sind stark von Sens Ideen geprägt.

Laut Esther Duflo und Abhijit Banerjee, beide ebenfalls mit dem Nobelpreis geehrt, offenbart die Geschichte heutiger Industrieländer nicht den einen Weg hin zu Entwicklung. Aber eine Lehre lässt sich daraus ziehen: Es ist wichtig, in die Menschen zu investieren. Infrastruktur und Institutionen müssen verfügbar gemacht werden, um Gesundheit und Bildung zu fördern. Eine hochwertige Ausbildung und qualifizierte Arbeitskräfte steigern Produktivität, Innovation und Anpassungsfähigkeit an den technologischen Wandel. Eine effiziente Infrastruktur inklusive Verkehrsnetze, Energiesysteme und Telekommunikation ermöglicht den Transport von Waren, Menschen und Informationen – und steigert Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit.

Wie Sen treffend bemerkt: „Entwicklung erfordert die Beseitigung der wichtigsten Ursachen für Unfreiheit: Armut und Tyrannei, schlechte wirtschaftliche Chancen und systematische soziale Benachteiligung, Verwahrlosung öffentlicher Einrichtungen und Intoleranz sowie Überaktivität repressiver Staaten.“

Literatur

Acemoglu, D., und Johnson, S., 2023: Macht und Fortschritt. Frankfurt am Main, Campus Verlag.

Acemoglu, D., und Robinson, J. A., 2012: Warum Nationen scheitern. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch.

Sundus Saleemi ist Senior Researcher am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn.
sundus.saleemi@gmail.com

Das BIP ignoriert auch wichtige nichtmarktbezogene Aspekte eines guten Lebens wie saubere Luft, Grünflächen, Wissen, zwischenmenschliche Beziehungen und Freiheit von Gewalt. Dafür umfasst es auch Werkzeuge, Waffen und Technologien, die das menschliche Leben beeinträchtigen können.

Das BIP erfasst zudem nicht, wie der in einer Volkswirtschaft geschaffene Wert verteilt ist. Es berücksichtigt nicht, ob nur einige wenige profitieren oder die breite Bevölkerung. Auch ökologische und soziale Kosten der Wertschöpfung bleiben unbeachtet.

Menschliche Entwicklung jenseits des Wirtschaftswachstums

Die große Frage ist, wie in benachteiligten Teilen der Welt menschliches Wohlergehen nachhaltig und breit angelegt werden kann. Die Schwächen des Wachstumsparadigmas legen nahe, Entwicklung in einem weiteren Sinne zu fassen. Individuelle Freiheit ist relevant, aber auch ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. Der Nobelpreisträger Amartya Sen formulierte eine Idee der menschlichen Entwicklung, die darauf abzielt, für alle Menschen mehr Möglichkeiten für ein lebenswertes Leben zu schaffen (siehe Praveen Jha auf Seite 18). Der Index der menschlichen Entwicklung, der die Kriterien Bildung, Gesundheit und Einkommen berücksichtigt, sowie die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs – Sustainable Development Goals) sind stark von Sens Ideen geprägt.

Laut Esther Duflo und Abhijit Banerjee, beide ebenfalls mit dem Nobelpreis geehrt, offenbart die Geschichte heutiger Industrieländer nicht den einen Weg hin zu Entwicklung. Aber eine Lehre lässt sich daraus ziehen: Es ist wichtig, in die Menschen zu investieren. Infrastruktur und Institutionen müssen verfügbar gemacht werden, um Gesundheit und Bildung zu fördern. Eine hochwertige Ausbildung und qualifizierte Arbeitskräfte steigern Produktivität, Innovation und Anpassungsfähigkeit an den technologischen Wandel. Eine effiziente Infrastruktur inklusive Verkehrsnetze, Energiesysteme und Telekommunikation ermöglicht den Transport von Waren, Menschen und Informationen – und steigert Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit.

Wie Sen treffend bemerkt: „Entwicklung erfordert die Beseitigung der wichtigsten Ursachen für Unfreiheit: Armut und Tyrannei, schlechte wirtschaftliche Chancen und systematische soziale Benachteiligung, Verwahrlosung öffentlicher Einrichtungen und Intoleranz sowie Überaktivität repressiver Staaten.“

Literatur

Acemoglu, D., und Johnson, S., 2023: Macht und Fortschritt. Frankfurt am Main, Campus Verlag.

Acemoglu, D., und Robinson, J. A., 2012: Warum Nationen scheitern. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch.

Sundus Saleemi ist Senior Researcher am Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn.
sundus.saleemi@gmail.com

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