Interview

„Hunger bis 2015 halbieren“

Dirk Niebel, der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick­lung, hat seine Beamten beauftragt, ein Nachfolgekonzept für die MDGs mit Blick auf die Jahre bis 2030 zu formulieren. Außerdem will er die Kooperation mit den Schwellenländern in Zukunft strategischer ausrichten.


[ Interview mit Bundesminister Dirk Niebel ]

Die MDG-Agenda hat die internationale Entwick­lungsdebatte stark geprägt. Was muss geschehen, damit bis 2015 ein maximales Ergebnis
erzielt wird?

Die Millenniumserklärung und die MDGs sind der Referenzrahmen für die internationale wie die deutsche Entwicklungspolitik. Fünf Jahre vor der Zielmarke gibt es viele Erfolge, aber auch noch große Herausforderungen. Zu den Erfolgen zählen unter anderem die Reduzierung der Armutsquote, dass mehr Kinder – und fast zu gleichen Teilen Mädchen wie Jungen – eine Grundschulbildung erhalten und die deutlich verbesserte Versorgung mit Trinkwasser. Auf der Sollseite stehen die leider immer noch sehr hohe Zahl von Kindern, die vor ihrem fünften Geburtstag an vermeidbaren Krankheiten sterben, die hohe Müttersterblichkeitsrate und große Defizite in der Sanitärversorgung.

Was bedeutet das für Ihre Politik?
In der Vorbereitung für den MDG-Gipfel bei den Vereinten Nationen im September haben wir uns dafür eingesetzt, dass in den verbleibenden fünf Jahren verstärktes Augenmerk auf die Einhaltung der Menschenrechte, auf gute Regierungsführung, auf die ­Eigenverantwortung der Partnerländer und die Einbindung von Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft gelegt wird. Grundlage für die Erreichung der MDGs ist ein nachhaltiges, breitenwirksames und ökologisches Wachstum, das allen Menschen die Chance eröffnet, sich aus der Armut zu befreien. Deshalb ist es wichtig, sowohl in den Entwicklungsländern wie auf globaler Ebene die Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein solches Wachstum ermöglichen.

Die MDG-Agenda listet von Punkt 1 bis 6 soziale Indikatoren, in Punkt 7 ökologische Ziele und in Punkt 8 eine Reihe von globalen Verträgen auf. Die Entwicklung der Privatwirtschaft wird nicht genannt. Ist das ein Fehler?
Die liberale Entwicklungspolitik sieht in einer nachhaltigen und inklusiven Wirtschaftsentwicklung in den Entwicklungsländern, getragen von einer dynamischen Privatwirtschaft, eine zentrale Voraussetzung für die Armutsreduzierung, die auch zur Lösung anderer dringlicher Herausforderungen beiträgt, etwa im Umwelt-, Gesundheits- oder Bildungsbereich. Ich begrüße, dass die anfänglich geringe Berück­sichtigung der Privatwirtschaft in der MDG-Agenda inzwischen deutliche Korrekturen erfahren hat. Im Abschlussdokument des MDG-Gipfels wurden wichtige Positionen zum nachhaltigen Wirtschaftswachstum, der Rolle des Privatsektors sowie zu den Beiträgen der Privatwirtschaft aufgenommen.

Gegen Ende des Jahrzehnts ist die Zahl der Hungernden und Mangelernährten wieder gestiegen. Was muss geschehen, um MDG 1 doch noch zu erreichen?
Trotz eines leichten Rückgangs im Jahr 2010 liegt die Zahl der hungernden und in Ernährungsunsicherheit lebenden Menschen mit 925 Millionen immer noch skandalös hoch. Wir beobachten in Afrika, Asien und Lateinamerika einige ermutigende Initiativen und Projekte, die in die richtige Richtung gehen. Wir bestehen daher darauf: Es ist möglich, MDG 1 noch zu erreichen und den Hunger bis 2015 zu halbieren. Dazu bedarf es jedoch neuer Prioritäten und neuer Akteure: Wir brauchen eine konzertierte Aktion zur Stärkung der sozialen Sicherungssysteme, der öffentlichen wie privaten Investitionen in die Landwirtschaft, in Infrastruktur, in Agrarberatungsdienste, in Agrarforschung. Die betroffenen Regierungen haben hier Führung und Initiative zu übernehmen. Der Privatsektor hat eine entscheidende Rolle dabei, beispielsweise Kleinbauern in nachhaltige Wertschöpfungsketten und innovative Businessmodelle zu integrieren, um deren Pro­duk­tivität und landwirtschaft­liche Einkommen langfristig zu erhöhen, ohne die natürlichen Ressourcen und die Lebensgrundlage der Ärmsten zu zerstören. Die Bauern­organisationen vor Ort und zivilgesellschaftliche Organisationen in Nord und Süd müssen involviert und die individuellen wie die kollektiven Landrechte der Kleinbauern geschützt werden. Schlüssel zur Bekämpfung der welt­weiten Ernährungsunsicherheit ist die Förderung des ländlichen Raums.

Das wurde lange vernachlässigt.
Ja, deshalb haben wir die ländliche Entwicklung und die Ernährungssicherheit wieder in den Mittelpunkt unseres Engagements gerückt. So hat sich die deutsche Bundesregierung im Rahmen der L’Aquila Food Security Initiative verpflichtet, bis 2012 drei Milliarden Dollar für die Ernährungssicherheit zu investieren. Hierzu stehen wir, und wir werden voraussichtlich bereits im Jahr 2010 unsere jährliche Zielgröße erreichen.

Die MDGs zielen auf die Bekämpfung der absoluten Armut ab. Typischerweise werden Konflikt- und Postkonfliktstaaten sie nicht erreichen. Muss sich die Entwicklungspolitik noch stärker um diese Staaten kümmern?
Bereits heute zählt rund die Hälfte der BMZ-Partnerländer zur Gruppe der Konflikt- und Postkonflikt­länder. Die Bedeutung dieser Staaten für die Erreichung der international gesetzten Ziele wie Armutsreduzierung, aber auch gute Regierungsführung und Sicherstellung positiver wirtschaftlicher Rahmen­bedingungen ist mir sehr bewusst – nicht nur, was die nationalstaatliche Entwicklung in diesen Ländern angeht, sondern auch was die Ausstrahlung der negativen Rahmenbedingungen auf Nachbarstaaten und die Region für Auswirkungen haben kann. Deshalb zählt Deutschland derzeit zu den drei weltweit größten Gebern von ODA an fragile Staaten.

Haben Sie dort zuverlässige Partner?
Es ist wichtig, die Eigenverantwortung unserer Partnerländer auch unter schwierigen Bedingungen zu stärken. In diesem Zusammenhang halte ich den laufenden Prozess des „International Dialogue on Peacebuilding and Statebuilding“, der vom Entwicklungsausschuss (DAC) der OECD befördert wird, für wichtig. Im Rahmen dieses Dialogs zwischen Gebern und Partnerländern, die sich erstmals selbst als fragile Staaten einstufen, sollen Zielpunkte formuliert werden, wie wir gemeinsam Armut in den Ländern reduzieren, Konflikte verhindern und die Lebensumstände ihrer Bevölkerungen verbessern können. Das BMZ unterstützt diesen Prozess finanziell und personell.

Viele Entwicklungsländer, die nicht von Gewalt erschüttert wurden, haben große Fortschritte gemacht. Ist EZ mit ihnen noch nötig?
Wo Entwicklungszusammenarbeit sinnvoll und nötig ist und welche Schwerpunkte wir mit unseren Partnern vor Ort setzen, diskutiere ich lieber anhand konkreter einzelner Länder. Grundsätzlich ist es aber Ziel, unsere Entwicklungszusammenarbeit mit allen unseren Partnerländern so wirkungsvoll zu gestalten, so dass sie möglichst bald nicht mehr nötig ist. Dann können wir den Staffelstab für die Kooperation an andere Ministerien weiterreichen – zum Beispiel an das Bundeswirtschaftsministerium für Wirtschafts- und Technologiekooperation, an das Bundesbildungs­ministerium für den wissenschaftlichen Austausch oder an das Umweltministerium für die Zusammenarbeit in den Bereichen Biodiversität oder Klimaschutz.

Brauchen wir für die Zeit nach 2015 neue Ziele?
Das politische Konzept der MDGs ist sehr erfolgreich. Mit diesem Referenzrahmen ist es gelungen, Unterstützung für Entwicklungspolitik zu mobilisieren und Fortschritte messbar und vergleichbar zu machen. Wir haben uns erfolgreich dafür eingesetzt, dass bereits jetzt im Abschlussdokument vereinbart wurde, dass 2013 eine Sonderveranstaltung zur Weiterverfolgung der Bemühungen organisiert und der UN-Generalsekretär aufgefordert wird, Empfehlungen vorzulegen, welche weiteren Schritte erforderlich sind, um die Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen über 2015 hinaus voranzubringen. Denn klar ist: Selbst wenn die Partnerländer mit unserer Unterstützung alle MDGs erreichen sollten, stehen wir 2015 vor großen Herausforderungen. Etwa ein Viertel der Menschheit wird dann immer noch in extremer Armut leben; sowohl Bildung und Ausbildung als auch Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen müssen weiter verbessert, und Trinkwasser- und Sanitärversorgung, insbesondere angesichts wachsender Urbanisierung, weiter vorangetrieben werden.

Heißt das, wir schreiben die MDGs fort und betreiben Business as usual?
Nein, denn wir werden vor neuen Herausforderungen stehen, deren Auswirkungen sich bereits jetzt bemerkbar machen. Namentlich geht es hier um den Schutz globaler öffentlicher Güter. Allen voran ist der Klimawandel zu nennen, der bereits heute starken Einfluss auf nachhaltige Entwicklung, Ernährungs­sicherung, Gesundheit und Schutz der natürlichen Ressourcen hat. Aber auch Frieden und Sicherheit, globale Epidemien oder ein stabiles Finanzsystem werden wachsenden Einfluss auf Entwicklung haben. Diese Heraus­forderungen müssen im MDG-Nachfolgemodell auf die eine oder andere Art und Weise berück­sichtigt werden. Wir werden uns aktiv in die Vorbereitung einer Agenda für ein MDG-Nachfolgemodell für die Zeit nach 2015 einbringen, und zwar mit der Zielsetzung, die Qualitäten der MDGs in einem ebenso kompakten oder sogar noch kompakteren Rahmen zu erhalten beziehungsweise unter Berück­sichtigung der anderen Handlungsfelder der Millenniums-Erklärung, globaler öffentlicher Güter und neuer Herausforderungen weiterzuentwickeln. Unser Arbeitstitel dafür lautet „Globale Entwicklungsziele 2030“.

Als die MDGs beschlossen wurden, ging man davon aus, dass es zur Bekämpfung des Klimawandels ein globales Abkommen geben werde. Das sieht heute weniger wahrscheinlich aus. Was folgt daraus für die Entwicklungspolitik?
Solange es noch kein umfassendes globales Abkommen gibt, wird es wichtiger, den Klimawandel durch regionale und bilaterale Initiativen einzudämmen, im Rahmen der Entwicklungspolitik vor allem durch die Förderung von Projekten zum Tropenwaldschutz und zur nachhaltigen Energieversorgung. Zudem müssen wir besonders die ärmsten Entwicklungsländer, die kleinen Inselstaaten und Afrika bei der Anpassung an die Folgen des Klimawandels unterstützen, etwa beim Küstenschutz, bei der Wasserversorgung und in der Landwirtschaft.

Extremwetterlagen haben in diesem Jahr schon Ernten in Russland und Pakistan vernichtet.
Ja, der Klimawandel bedeutet eine weitere Hürde für die Erreichung der MDGs. Hunger und Mangelernährung können schon bald wieder zunehmen, aber die gravierendsten Auswirkungen werden erst nach 2015 – vermutlich erst um 2050 – spürbar werden. Die schlimmsten Folgen lassen sich noch abwenden, wenn wir vorausschauend handeln. Die deutsche Entwicklungspolitik hat Umwelt- und Klimaschutz schon seit langem zu einem ihrer Schwerpunkte gemacht. Der soeben veröffentlichte OECD/DAC-„Peer Review“ hat diese Stärke noch einmal bestätigt. Schon heute haben viele Entwicklungsprojekte einen doppelten Nutzen, sie dienen sowohl dem Klima als auch der Armutsreduzierung. Diese Verbindung wollen wir noch weiter verstärken, etwa dadurch, dass wir im Januar 2011 eine erweiterte Umwelt- und Klimaprüfung für alle BMZ-Projekte einführen.

MDG 8 stellte eine entwicklungsfreundliche Weltordnung in Aussicht. Sehen Sie Fortschritte auf diesem Weg?
Es ist erfreulich, dass die Entwicklungsländer in der Welthandelsorganisation mittlerweile in hoher Zahl repräsentiert sind und ihre Belange im Zentrum der Doha-Runde stehen. Wir brauchen jetzt zügig einen entwicklungsorientierten Abschluss. Die Zielvorgabe des MDG 8, Verbesserung des Zugangs zu Medikamenten, lässt sich nur in Zusammenarbeit mit dem lokalen Privatsektor in den Entwicklungsländern erreichen. Deswegen unterstütze ich den Ausbau von Pharmaproduktion dort, wo er von den Patienten gebraucht wird und der lokale Privatsektor bereit ist, in Qualitätsproduktion zu investieren. Bisher haben wir hierzu über 60 Millionen Euro eingesetzt und damit ein Vielfaches an privaten Investi­tionen in Afrika – zum Beispiel in Äthiopien, Kamerun, Tansania, Kenia – und in Bangladesch ausgelöst. Dieses erfolgreiche Programm der Bundesregierung wollen wir in den nächsten Jahren mit unseren bisherigen Partnern und weiteren Ländern vor allem bilateral ausbauen.

In den vergangenen Jahren ist der Einfluss der großen Schwellenländer enorm gewachsen – ­allen voran der Chinas und Indiens. Was heißt das für die Entwicklungspolitik?
Die rapide Entwicklung von Ländern wie etwa Brasilien oder Indien war in den letzten Jahren in der Tat bemerkenswert. Damit meine ich nicht nur die imposante Wirtschaftsentwicklung, sondern auch das gestiegene politische Gewicht dieser Länder, das sich etwa in der Mitgliedschaft der G20 ausdrückt. Aber: In Schwellenländern lebt mehr als die Hälfte aller weltweit in absoluter Armut lebenden Menschen. Oder denken Sie an die Auswirkungen des rapide steigenden Energieverbrauchs dieser großen Entwick­lungsländer auf das globale Klima. Hier kann auch die Entwicklungspolitik einen Beitrag leisten und gemeinsam mit diesen Ländern Lösungen für globale nachhaltige Entwicklung suchen. Dabei dürfen wir uns allerdings nicht vormachen, dass wir hinsichtlich der Werte und Interessen immer eine gleiche Ausgangsbasis haben.

Wie gehen Sie damit um?
Mein Ministerium arbeitet an einem Konzept der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit mit den Schwellenländern. Thematisch werden wir uns auf die Bereiche Klima- und Umweltschutz, nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und globale Entwicklungs-agenden konzentrieren. Es gilt, den Strukturwandel dieser Länder zu begleiten – dies ist auch in unserem Interesse. Diese Themen bearbeiten wir in unterschiedlichen Arenen der Kooperation: in den Schwellenländern selbst, mit ihnen in anderen Entwick­lungsregionen dieser Welt, zum Beispiel in Afrika, oder in den vielfältigen Foren der Vereinten Nationen, der G20, des OECD-DAC und der Bretton-­Woods-Institutionen. Die Zusammenarbeit mit den Schwellenländern wird somit in Zukunft noch stärker strategisch ausgerichtet. Natürlich werden wir auch die deutsche und lokale Wirtschaft sowie die zivilgesellschaftlichen Kräfte verstärkt ein­binden.

2008 beendete die globale Finanzkrise den Aufschwung der Weltwirtschaft – Entwicklungs- und Schwellenländer haben sich aber relativ schnell erholt. Was löst das bei Ihnen aus?
Zuerst einmal Freude und Erleichterung, dass die schlimmsten Befürchtungen zu Beginn der Krise für unsere Partnerländer nicht eingetreten sind, so dass wir bei der Erreichung der MDGs nicht weit zurückgeworfen wurden. Da die Ursachen der Krise diesmal klar in den reichen Ländern lagen, müssen vor allem auch in diesen Ländern ordnungs- und haushaltspolitische Konsequenzen gezogen werden. Eine bedauerliche Auswirkung auf die Entwicklungspolitik ist, dass es deutlich schwerer wird, staatliche Mittel für Entwicklungszusammenarbeit im angestrebten Umfang zu steigern. Dies bedeutet, dass eine meiner Prioritäten umso bedeutender wird: die Mobilisie-rung privater Investoren und der Wirtschaft für Inves­titionen in Entwicklungs- und Schwellenländern. Die erfreulich schnelle Erholung dieser Länder sollte Wirtschaft und privaten Investoren weitere gute Gründe geben, warum sich Investitionen gerade in diesen Ländern lohnen. Das BMZ steht bereit, dieses Engagement konstruktiv zu begleiten.

Die Fragen stellte Hans Dembowski.

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