Sommer-Special

„Als Frau geboren zu sein ist schon eine Provokation“

„Bilqiss“– so der Titel eines 2015 in Frankreich erschienenen, provokanten Romans – ist ein bitterböses Märchen über eine mutige Frau in einem nicht näher benannten, streng muslimischen Land, in dem es schon ein Verbrechen ist, Gedichtbände zu lesen, Make-up zu benutzen oder Reizwäsche im Schrank zu haben. Dieser Beitrag ist der sechste unseres diesjährigen Sommer-Spezialprogramms mit Rezensionen künstlerischer Werke mit entwicklungspolitischer Relevanz.
Muslimisches Mädchen liest im Koran. picture-alliance/NurPhoto Muslimisches Mädchen liest im Koran.

Die junge Witwe Bilqiss wartet in ihrer Zelle auf die Verurteilung. Ihr Vergehen ist nicht, dass sie ihren 33 Jahre älteren Ehemann, der sie geschlagen und misshandelt hat, mit der heißen Bratpfanne erschlagen hat. Nein, das konnte sie mit Hilfe der beiden amerikanischen Soldaten, die im Dorf herumlungern, erfolgreich als Unfall vertuschen.

Angeklagt ist sie, weil sie anstelle des sturzbetrunkenen Muezzin vom Minarett aus die Gläubigen zum Morgengebet gerufen hat. Nicht nur, dass dies an sich schon ein Verbrechen für eine Frau in ihrem Land wäre, sie hat den Ruf zum Gebet auch noch ihren Vorstellungen entsprechend abgewandelt.

Die Strafe, die am Ende des Prozesses auf sie wartet, steht von vornherein fest. Es ist die Höchststrafe: Tod durch Steinigung. Bilqiss, im Gerichtssaal zum Schutz vor dem lynchenden Mob in einen Käfig gesperrt, übernimmt ihre Verteidigung selbst – mit zynischer Schlagkraft und rhetorischer Raffinesse. Sie fleht keineswegs um Gnade, sondern nutzt den Prozess, um ihre Sicht auf die eigene Lage und die ihres Landes darzustellen. Anstatt Demut zu zeigen, provoziert sie weiter und entlarvt die Verlogenheit einer fundamentalistischen Männerwelt, in der Frauen schon allein deshalb verachtet werden, weil sie eben keine Männer sind.

Dafür macht Bilqiss keineswegs den Koran verantwortlich. Ganz im Gegenteil, sie ist religiös, betet in ihrer Zelle zu Allah. Aber sie wagt es, ihre eigene Auffassung des Korans zu haben, auf den sie sich in ihrer mutigen Verteidigung immer wieder bezieht. Bilqiss zeigt auf, wie Männer in ihrer fundamentalistischen Gesellschaft die Religion instrumentalisieren, um Frauen das Leben schwer zu machen. Ihre Darstellung des religiösen Fanatismus mutet an wie Realsatire, wenn sie berichtet, es sei für Frauen streng verboten, auf dem Markt Gemüse zu kaufen, dessen Phallusform sie vielleicht verführen könnte, Unsittliches zu tun. Daher müssten Auberginen und Zucchini stets vom Händler kleingeschnitten werden. Oder aber, wenn sie sich über Religionswächter mokiert, die überprüfen, ob eine Frau einen Büstenhalter trägt – denn auch dies ist verboten –, indem sie sie auf und ab hüpfen lassen.

Als verwitwete Frau ohne Kinder hat Bilqiss in dieser von Männern und ihren archaischen Traditionen dominierten Welt von vornherein keine Chance. Sie betrachtet sich daher nicht als aktive Gestalterin ihres Lebens. Nun aber wird der Gerichtssaal für sie zur Bühne, auf der sie sich eine Rolle erkämpft. Es geht ihr nicht um die bloße Verlängerung ihres Lebens, sondern um Protagonismus. Bilqiss weiß ihre Hinrichtung jeden Tag um einen weiteren hinauszuzögern, um so ihren Auftritt zu verlängern.

Der Richter, der über ihren Fall urteilen soll, steht eigentlich für den fundamentalistischen Islam, doch auch er hat seine Verlogenheit und Ungerechtigkeit erkannt. Dennoch ist er ein Gefangener des Systems, gezwungen, die ihm vorbestimmte Rolle zu erfüllen. Das wird spätestens dann klar, als er Bilqiss aufgrund einer unzüchtigen Antwort zu 37 Peitschenhieben verurteilen muss, weil die tobende Meute dies verlangt. Nachts schleicht er sich aber heimlich in ihre Zelle, um ihr schmerzlindernde Salbe zu geben und um sie anzuflehen, doch mehr Demut zu zeigen, damit er sie vielleicht doch noch retten kann. Er ist fasziniert von Bilqiss, die ihm eine streitbare Gegnerin in Diskussionen ist – ganz im Gegenteil zu seiner eigenen Gattin, die weder Lesen noch Schreiben gelernt hat und vielleicht für sein leibliches, nicht aber für sein intellektuelles Wohl sorgen kann.

Der archaischen Welt von Bilqiss setzt die Autorin das mondäne New York entgegen, wo sich die Probleme einer Frau um Selbstbestimmung, berufliche Verwirklichung und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz drehen. Auf der Suche nach einer guten Story stößt die amerikanische Journalistin Leandra auf die Live-Übertragungen des Prozesses von Bilqiss im Internet. Leandra empört sich über den Fall, wittert gleichzeitig aber auch eine gute Story. Sie reist zum Schauplatz und schafft es, Bilqiss in ihrer Zelle zu interviewen. Doch Bilqiss wirft ihr vor, die unterdrückten Musliminnen zu ins­trumentalisieren. „Je barbarischer die Verfolgung, desto größer eure Anteilnahme.“

Der Roman „Bilqiss“ spiegelt die ganze Wut und den Zorn der französisch-marokkanischen Autorin Saphia Azzeddine wieder. Sie prangert die Unterdrückung der Frau im fundamentalistischen Islam an, die engstirnige Auslegung des Korans, die Scheinheiligkeit und Unfreiheit aller Beteiligten. Zugleich aber spart sie auch nicht mit Kritik an den Wohlmeinenden im Wes­ten, die muslimische Frauen bemitleiden, aber nicht merken, wie anmaßend sie sich verhalten, wenn sie über andere Kulturen vorschnell urteilen.

Die Geschichte ist tragisch, doch auch voller Witz und Ironie, so dass die Lektüre durchaus auch vergnüglich ist.


Buch
Saphia Azzeddine, 2015: Bilqiss. Paris, Éditions Stock (in Französisch).
(Deutsch: 2016, Berlin, Wagenbach).

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