Stigma und Scham

Unerkanntes Leid

Vor fünf Jahren stellte die indische Zentralregierung die erste nationale Strategie für psychische Gesundheit vor. Die Absichten sind gut, aber es wird wohl ein harter Kampf, die Ziele zu erreichen.
Sensibilisierungs­bemühungen in Kalkutta im April 2017. Tumpa Mondal/picture-alliance/Photoshot Sensibilisierungs­bemühungen in Kalkutta im April 2017.

Die Regierung will allen psychisch Kranken universellen Zugang zu hochwertiger Behandlung ermöglichen. „Armut und psychische Erkrankung sind auf untrennbare Weise negativ miteinander verknüpft“, heißt es in der Strategie. Zudem: „Menschen aus unteren sozioökonomischen Schichten sind anfälliger für psychische Probleme.“ Es sollen mehr Gelder fließen, und auch für ausreichend professionelles Personal soll gesorgt werden. Zentral bei diesem Ansatz ist der Kampf gegen Stigmatisierung. Gesundheitsminister Harsh Vardhan erklärte, die Strategie sei „in ein Wertesystem eingebettet, das auf Partizipation und Rechten basiert und zum Ziel hat, hochwertige Angebote und deren wirksame Ausführung zu fördern“.

Um Indiens psychische Gesundheit steht es schlechter als viele denken. Das Nationalinstitut für psychische Gesundheit und Neurowissenschaften (NIMHANS – National Institute for Mental Health and Neurosciences) deklarierte für 2015/2016, dass jeder siebte Inder einmal in seinem Leben an einer psychischen Störung leide. Zehn Prozent der Inder benötigten akut Hilfe. Aufgrund von Stigmatisierung und schlechter Infrastruktur im Gesundheitswesen erhalte jedoch nur etwa ein Fünftel der Betroffenen innerhalb eines Jahres nach Erkrankung die erforderliche medizinische Behandlung.

Die Zeitung The Hindu berichtete seinerzeit: „Besonders im städtischen Raum gibt es eine sehr hohe psychische Morbidität; Schizophrenie, affektive und neurotische oder stressbedingte Störungen treten häufiger auf.“ Das könne unter anderem an „schnelllebigem Lebenswandel, Stress, komplexen Lebensumständen, dem Zusammenbruch von Unterstützungssystemen und wirtschaftlicher Instabilität“ liegen (siehe auch Rezensionsbeitrag von Katja Dombrowski im Schwerpunbkt des E+Z/D+C-e-Paper 2019/06).

Ein großes Problem ist der Mangel an Fachleuten. 2014 kamen in Indien laut Weltgesundheitsorganisation nur 0,3 Psychiater auf 100 000 Menschen – in Deutschland waren es 7,5 Psychiater, in den USA 12,4.

Dem Land fehlen allgemein Ärzte und Krankenschwestern (siehe auch Ipsita Sapra über Müttergesundheit im Schwerpunkt des E+Z/D+C-e-Papers 2017/08), und es gibt kaum Psychologen und Psychiater. Nur wenige Medizinstudenten spezialisieren sich auf diesem Gebiet, auch, weil es bislang nicht Kernbestandteil des Gesundheitssystems ist.

In städtischen Ballungsräumen sieht es etwas besser aus. Laut Google praktiziert allein in Mumbais Vorort Andheri mehr als ein Dutzend Psychiater. Der Höhe ihrer Gebühren nach zu urteilen behandeln sie vor allem wohlhabende Patienten.

Zwar ist die extreme Armut in den letzten Jahren zurückgegangen, doch ist Indien längst keine reiche Nation (siehe Roli Mahajan im Schwerpunkt des E+Z/D+C-e-Papers 2018/11). Offensichtlich hat der am stärksten gefährdete Teil der Bevölkerung wenig Ahnung davon, was psychische Gesundheit bedeutet – und selbst wenn diese Menschen mehr davon verstünden, hätten sie es schwer, psychologische oder psychiatrische Behandlung in Anspruch zu nehmen.

Arme Bevölkerungsgruppen ignorieren psychische Erkrankungen tendenziell, denn diese behindern den Betroffenen ja nicht sichtlich. Zudem sterben nur wenige daran – auch wenn eine klinische Depression manche Betroffene in den Selbstmord treibt. Die Suizidrate ist in Indien tatsächlich erschreckend hoch (siehe Kasten). Insgesamt aber scheinen psychisch Kranke vor allem unter langen Phasen der Traurigkeit, der Gereiztheit oder unter Wahnvorstellungen zu leiden. Familien, die kaum über die Runden kommen, geben für solche Episoden kein Geld aus, selbst wenn professionelle Hilfe hilfreich wäre.

Studien in verschiedenen Entwicklungsländern zeigen, dass finanzielle Not, körperliche Erkrankungen und mangelnde Qualifizierung die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Wer sich selbst und seine Familie nicht versorgen kann, neigt zu Gefühlen der Unzulänglichkeit. Zusätzlich wird das durch die – unerfüllbaren – Wünsche verstärkt, die Werbung und Medien in Konsumgesellschaften systematisch wecken.

Psychische Probleme bedeuten in allen sozialen Schichten Stigmatisierung und Scham. Daher suchen Betroffene oft keine professionelle Hilfe. Sie wissen, dass sie eine Schande für die Familie wären und womöglich sogar verstoßen würden. Ob Angstzustände, Depressionen oder Sucht – die meisten wollen sich ihre psychischen Probleme nicht eingestehen. Dass Sucht oft in Folge von Ängsten und Depressionen auftritt, verkompliziert die Dinge.


Brüchige Bindungen

Die indische Gesellschaft ist offensichtlich nicht bereit, anders mit psychischen Problemen umzugehen, als mit Appellen an persönliche Moral oder religiöse Normen. Der schnelle soziale Wandel trägt zu den Problemen bei. Traditionelle soziale Beziehungen sind für viele immer noch wichtig, oft sind sie aber zunehmend brüchig – nicht zuletzt, weil traditionelle Normen nicht zu einer sich modernisierenden Gesellschaft passen. Am deutlichsten wird das im städtischen Raum, es gilt aber auch für die Landbevölkerung, die Zugang zu Massenmedien und Internet hat und für die Kontakte zu Verwandten in den Städten immer wichtiger werden.

Besser kann es in Indien nur werden, wenn das System für psychische Gesundheit fester Bestandteil des allgemeinen nationalen Gesundheitssystems wird. Allgemeinmediziner und Fachärzte müssen sich mit Psychiatern und Psychologen zusammentun. Krankenhäuser halten aber psychische Angelegenheiten für nicht lukrativ und damit für wenig interessant. Das privatwirtschaftliche Gesundheitswesen ist in den letzten Jahrzehnten gewachsen (siehe Beitrag zu Hypertonie im Schwerpunkt des E+Z/D+C-e-Papers 2018/03). Abgesehen von ein paar Fachleuten, die privilegierten Menschen bei der Anpassung an westliche Normen helfen, scheren sich private Anbieter aber wenig um psychische Krankheiten.

Ein neuerer globaler Trend könnte die Situation verschärfen: US-Studien zufolge hängt die Nutzung sozialer Medien eng mit psychischem Wohlbefinden zusammen. Je mehr Zeit Menschen auf Plattformen wie Facebook oder Instagram verbringen, desto eher leiden sie an Depressionen und Einsamkeit. Diese Art der digitalen Kommunikation ist in Indien aber besonders bei den Jüngeren sehr beliebt; sie checken ständig ihre Mobiltelefone. Möglicherweise sind moderne Technologien tatsächlich weniger harmlos als gedacht – und das kann es der Regierung zusätzlich erschweren, die Ziele für psychische Gesundheit zu erreichen.


Sandip Chattopadhyay ist Gründungssekretär des Chandradeep Solar Research Institute in Kalkutta.
info@csrinstitute.co.in

Hans Dembowski ist Chefredakteur von E+Z/D+C.
euz.editor@dandc.eu

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