Nährstoffmangel

Hunger ohne Hungergefühl

Milliarden von Menschen leiden unter einem Hunger, den sie nicht spüren: Der sogenannte „verborgene Hunger“ oder „Hidden Hunger“ ist die Unterversorgung mit lebenswichtigen Mikronährstoffen. Dies ist ein Problem in der reichen, vor allem aber in der armen Welt. Der deutsche Ernährungs­mediziner Hans K. Biesalski zählt weltweit zu einem der führenden Experten für dieses Thema, und hat mehrere Standardwerke dazu verfasst.
Eine Frau holt sich ein Lebensmittel­paket im Township KwaZulu Natal in Durban, Südafrika, ab, das eine Vereinigung gegen verborgenen Hunger bereitstellt. picture-alliance/abaca/RealTime Images/ABACA Eine Frau holt sich ein Lebensmittel­paket im Township KwaZulu Natal in Durban, Südafrika, ab, das eine Vereinigung gegen verborgenen Hunger bereitstellt.

Biesalski will zuallererst aufklären: Die chronische Mangelernährung werde häufig übersehen, da sie sich lange nicht in einer Krankheit äußert. Dabei sind die Folgen gravierend: Bei Kindern kommt es zu einer eingeschränkten körperlichen wie geistigen Entwicklung. Die Sterblichkeit ist um ein Vielfaches höher als bei gesund ernährten Kindern. Bei Erwachsenen ist das Immunsystem gestört, und vor allem bei schwangeren Frauen hat der verborgene Hunger (zum Beispiel Eisenmangel) eine erhöhte Sterblichkeit während und kurz nach der Geburt zur Folge.

Wenn der verborgene Hunger sichtbar wird, so drückt er sich in schweren Formen eines Defizites aus und ist laut Biesalski zu 90 Prozent in Entwicklungsländern zu finden. Spezifische Anzeichen sind Skorbut bei Vitamin-C-Mangel, Rachitis bei Vitamin-D- und Nachtblindheit bei Vitamin-A-Mangel. Für viele andere Mikronährstoffe sind Mangelmerkmale jedoch nicht bekannt oder sehr unspezifisch. Wie viele Betroffene unter Hidden Hunger leiden und es nicht oder noch nicht wissen, kann nur geschätzt werden. Biesalski nennt etwa 2 Milliarden Menschen, die an Eisen-, und eine Milliarde, die an Zinkmangel leiden.

Eine Ursache für Hidden Hunger sei, so der Wissenschaftler, dass bis heute ein Drittel der Weltbevölkerung sich zu einseitig ernähre. Diese Menschen decken etwa 80 Prozent des täglichen Kalorienbedarfs allein mit den Grundnahrungsmitteln Reis, Mais und Weizen. Diese Getreide enthalten wichtige Makronährstoffe (Fett, Eiweiß, Kohlenhydrate), jedoch kaum Mikronährstoffe (Vitamine, Minerale, Spurenelemente, einige Aminosäuren). Biesalski betont aber, dass beide Stoffe überlebenswichtig sind.

Makronährstoffe werden auch als energieliefernde Bestandteile der Nahrung bezeichnet, während die essenziellen Mikronährstoffe zwar keine Energie liefern können, aber für viele Stoffwechselprozesse und Funktionen des Organismus unentbehrlich sind. Während der Organismus die Unterversorgung mit Makronährstoffen sehr effektiv zu verhindern weiß, indem er Hunger signalisiert, gibt es – nach heutigem Wissensstand – für eine Unterversorgung mit essenziellen Mikronährstoffen kein körpereigenes Alarmsignal.

Besonders schwer trifft die Fehlernährung Kinder, schreibt Biesalski: Hinter jedem verhungerten Kind stünden „mindestens zehn weitere, deren Hunger oft erst wahrgenommen wird, wenn es zu spät ist“. Hunger, also chronische Mangel- oder Unterernährung, sei bei diesen Kindern kein vorübergehendes Gefühl, sondern ein Dauerzustand, den auch vorübergehende Lebensmittelhilfen nicht beheben könnten. Dem Wissenschaftler zufolge gibt es drei unterschiedlichen Phänotypen der Unterernährung:

  1. niedriges Gewicht im Verhältnis zur Körpergröße (wasting),
  2. nicht altersentsprechende (zu kleine) Körpergröße (stunting),
  3. nicht altersentsprechendes (zu niedriges) Körpergewicht (Untergewicht).

Die hohe Kinder- und Müttersterblichkeit in vielen Entwicklungsländern steht Biesalski zufolge „in direktem Bezug zur minderen Lebensmittelqualität“, also dem Hidden Hunger. Durch die Unterversorgung mit Vitamin A, Eisen und Zink wird die gesamte Abwehrkraft geschwächt. Das Immunsystem leidet ebenso, wie die für die Abwehr wichtigen Schleimhäute der Atemwege und des Darmtraktes. Die Folge sind häufige Infektionskrankheiten, die zu einer weiteren Schwächung beitragen. Atemwegserkrankungen zählten bei Kindern mit Mangelernährung zu den häufigsten schwerwiegenden Erkrankungen, die auch mit einer hohen Sterblichkeit verbunden seien. Der Wissenschaftler bilanziert: „Mehr als die Hälfte der Todesfälle könnten durch eine auch nur halbwegs ausreichende Ernährung der Mütter und Kinder vermieden werden.“

Der Wissenschaftler zeigt Strategien gegen den verborgenen Hunger auf, der zuallererst aus seiner Verborgenheit geholt werden müsse. Die kritischste Phase, in der Hidden Hunger Folgen für das gesamte weitere Leben eines Menschen habe, sei das sogenannte 1000-Tage-Fenster. Die ersten 1000 Tage im Leben eine Menschen würden darüber entscheiden, ob Kinder in ihrer Entwicklung beeinträchtigt sind und auch als Erwachsene häufiger an sogenannten Zivilisationskrankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck sowie Übergewicht leiden. Die ersten 1000 Tage unterteilt Biesalski in drei entscheidende Ernährungsphasen:

  • Ernährung in der Schwangerschaft,
  • Stillzeit,
  • Zeit nach dem Stillen bis zum Ende des 2. Lebensjahres.

Biesalski hält in diesen Ernährungsphasen eine Supplementierung mit einzelnen Vitaminen oder Mineralien für durchaus sinnvoll, warnt aber auch vor den Risiken. Es könne zum Beispiel das Fehlen anderer Mikronährstoffe übersehen werden. Er plädiert daher dafür, am besten Multimikronährstoffe an junge Mädchen zu verabreichen, die mangelernährt sind und die potenziell schwanger werden können. Solche Maßnahmen sollten auch immer mit einer Ernährungsaufklärung verbunden sein, betont der Wissenschaftler. Sein Fazit lautet: Die sinnvollste und nachhaltigste Methode, um die Nahrhaftigkeit der Ernährung zu verbessern, bestehe darin, möglichst viele verschiedene natürliche Lebensmittel zu essen (siehe dazu auch Silke Stöber im Schwerpunkt des E+Z/D+C e-Papers 2020/01).


Literatur
Biesalski, H. K., 2012: Der verborgene Hunger – Satt sein ist nicht genug. Heidelberg, Springer.
(Auszüge aus dem Buch Hidden Hunger sind hier zu finden: Biesalski, H. K., 2013: Ursachen, Folgen und Möglichkeiten zur Bekämpfung der Weltseuche Nährstoffmangel – Hidden Hunger. In: Nova Acta Leopoldina NF 118, Nr. 400, 159–192.
http://www.leopoldina.org/uploads/tx_leopublication/NAL_400_Book_gesamt_lowres_US.pdf)

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