Fachliteratur

Hirten als Hüter der Umwelt

Rinderhaltung steht momentan ganz oben auf der Rangliste der umweltzerstörenden Aktivitäten: Sie ist ressourcenfressend, grundwasserverpestend, ein Killer für das Klima. Das stimmt – aber nur teilweise. Denn Hirtenvölker halten ihre Herden seit Jahrtausenden im Einklang mit der Natur und tragen sogar zum Erhalt der Ökosysteme bei, wie neue Publikationen zum Thema bestätigen.
Hirtenvölker tragen in vielfältiger Weise zum Erhalt der Ökosysteme und zur Ernährungssicherheit bei. C. Gödan/Tierärzte ohne Grenzen Hirtenvölker tragen in vielfältiger Weise zum Erhalt der Ökosysteme und zur Ernährungssicherheit bei.

Die Diskussion über die ökologische Schuldlast der stetig zunehmenden Fleisch- und Milchproduktion fokussiert meist auf die westlichen Regionen mit ihrer hochentwickelten und als industriell zu bezeichnenden intensiven Tierhaltung und die damit verbundenen Methanemissionen. Dabei wird zum einen oft vergessen, dass ein Großteil der weltweiten Rinder-, Kamel- und Ziegenherden extensiv gehalten werden und diese Tierhaltungsform seit Jahrtausenden zur Stabilisierung und Diversifizierung der Ökosysteme beiträgt. Zum anderen bleibt unbeachtet, dass Nutztiere für fast 3 Milliarden Menschen auf diesem Planeten von zentraler und lebenswichtiger Bedeutung sind.

Denn sie liefern hochwertige Lebensmittel oftmals in Gegenden, wo Ackerbau schwer möglich ist. Gerade diese Menschen werden aber in einer vornehmlich von den industrialisierten Staaten getragenen Debatte über Fleischkonsum kaum betrachtet. Denn nur CO2-Emissionen (berechnet in Relation zur Produktion von einem Kilo Fleisch oder Milch) als Maßstab für die Rechtfertigung von Rinderhaltung zu nehmen, greift viel zu kurz. Den 800 Millionen hungernden Menschen, von denen die meisten keinen Zugang zu hochwertigen und lebensnotwendigen tierischen Proteinen haben, würde diese Debatte zynisch erscheinen. 90 Gramm Fleisch pro Tag sind die von der Weltgesundheitsorganisation WHO empfohlene Tagesration für Menschen. Während ein US-Bürger dreimal so viel verzehrt, isst beispielsweise in Botswana jeder Bürger weniger als die Hälfte der empfohlenen Tagesration, wie Jimmy Smith vom International Livestock Research Institute (ILRI) in Nairobi im Economist im Februar 2015 schrieb.

Die Rolle, die Kleinbauern und Hirtenvölker, sogenannte Pastoralisten, dabei spielen können und vermehrt könnten, um diesen lebenswichtigen Bedarf zu decken, wurde in vielen Diskussionen in den letzten Jahren vernachlässigt. Und das bei einer global gesehen stetig wachsenden Nachfrage nach tierischen Produkten (Smith, 2015). Dabei ist der Pastoralismus nicht nur Fleisch- und Milchlieferant für Millionen Menschen weltweit, sondern auch eine der nachhaltigsten und umweltfreundlichsten Formen der Tierhaltung. Denn sie verbessert die Bodenqualität, erhält die Biodiversität, hält Nährstoffkreisläufe aufrecht und trägt zur regionalen Ernährungssicherheit, vor allem im globalen Süden, bei. Dies erkennen zunehmend auch internationale Institutionen und Akteure.

So kommt eine kürzlich von der International Union for the Conservation of Nature (IUCN) und dem United Nations Environment Programme (UNEP) in Auftrag gegebene Studie zu dem Schluss, dass Pastoralismus als Schlüsselelement eines globalen Übergangs zu einer grünen und ökologisch nachhaltigen Wirtschaft eine entscheidende Rolle spielen könnte.
 

Weidehaltung als Hüter der Umwelt

Fast 500 Millionen Pastoralisten gibt es laut Schätzungen des IUCN/UNEP-Berichts weltweit. In Subsahara-Afrika allein leben 16 Prozent der Bevölkerung von der Wanderviehhaltung. In Ländern wie Somalia und Mauretanien stellen sie sogar die Mehrheit der Bevölkerung. Ihre etwa eine Milliarde Tiere produzieren unter oft schwierigen Bedingungen Fleisch, Milch, Horn, Haut und Fell. Darüber hinaus liefern sie tierische Zug- und Transportkraft.

Pastoralisten tragen seit Jahrtausenden durch ihre Wirtschaftsweise in vielen Re­gionen wesentlich zur landwirtschaftlichen Wertschöpfung und zur Ernährungssicherung bei, stellt Davies (2012) fest. Denn sie können trockene Gebiete ebenso produktiv nutzen wie unzugängliche Hochtäler. Die von ihnen genutzten Weideökosysteme wie Savannen und Steppen machen dabei fast ein Viertel der Erdoberfläche aus. Sie entwickelten sich im Laufe der Zeit gemeinsam mit den sie beweidenden Huftieren, und beide sind interdependent: Huftiere haben Weideökosysteme und deren Artenvielfalt geformt genauso wie Grasländer die Evolution der sie beweidenden Tiere. Pastoralismus entwickelte sich über Jahrtausende mit, und Wanderviehhalter haben komplexe Managementsysteme und kulturelle Normen entwickelt, die die nachhaltige und effiziente Nutzung dieser Ressource gewährleisten. Letzten Endes ist die Lebensweise der Pastoralisten so eng mit dem Erhalt der Biodiversität verbunden, dass sie als deren Hüter bezeichnet werden können.

Wenn Pastoralismus effizient praktiziert wird, schützt und unterstützt er die Biodiversität seiner Gras- und Savannenländer (IUCN/UNEP, 2014). In Europa etwa gehören die von Wanderhirten genutzten traditionellen Schafstriften zu den artenreichsten Gebieten des Kontinents. Viehzüchtende Nomadenvölker sind seit Generationen in der nachhaltigen Nutzung ihrer Weidegründe erfahren: Sie wissen, wie belastbar die Vegetation ist. Sie kennen die Wirkung einzelner Futterpflanzen, und ihre Lebensweise schont die Vegetation: Wenn das Futter knapp wird, ziehen sie mit ihren Tieren weiter.

Mit dem Pastoralismus entwickelten sich über die Jahrhunderte lokale, an die regionalen Gegebenheiten angepasste und gegen bestimmte Krankheiten, Dürren oder Parasiten resistentere Tierrassen. Trockengebiete, in denen die meisten Pastoralisten leben, beherbergen somit 46 Prozent der weltweiten Artenvielfalt.

Hirtenvölker bewahren durch die Zucht einheimischer Nutztierrassen nicht nur die regionale genetische Vielfalt, sondern auch wichtiges indigenes Wissen in Bezug auf Haltung, Fortpflanzung und Gesundheit dieser Tiere. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass 82 Prozent der weltweiten tierischen Erzeugnisse aus nur 14 Rassen stammen.

Pastorale Nutztierrassen sind individuell auf die Umwelt- und Produktionsbedingungen der Weidewirtschaft angepasst. Sie bleiben bei Stress und schlechten Umweltbedingungen produktiv und liefern eine Reihe von nutzbaren Ressourcen wie Fleisch, Milch, Felle und Dung. Wenn diese Rassen nur bezüglich eines einzigen Merkmales betrachtet werden, gibt es oftmals Tendenzen, sie zu ersetzen. Es gibt beispielsweise Rassen, die mehr Fleisch bringen oder mehr Milch liefern. Diesen Rassen fehlt aber die Anpassungsfähigkeit an die lokalen Bedingungen. Sie kommen beispielsweise schlechter mit Dürren zurecht oder reagieren empfindlicher auf Krankheitserreger, die in bestimmten Gegenden vermehrt vorkommen.

Der Verlust tierischer Genvielfalt wiegt schwerer als der Rückgang der Genvielfalt der Kulturpflanzen, da der Gen-Pool viel kleiner ist und weniger wilde Artverwandte bleiben. Mittlerweile sind mehr als 200 Rinder- und etwa 180 Schafrassen ausgestorben. Das Überleben weiterer 210 Rinder- und 179 Schafrassen gilt als „kritisch“ oder „gefährdet“, warnen IUCN und UNEP.

Die Lebensgrundlage der Pastoralisten verschlechtert sich zunehmend: Verstädterung, Privatisierung von Weidegründen, politische Marginalisierung und Konflikte sind nur einige der Schwierigkeiten, mit denen Pastoralisten weltweit zu kämpfen haben. Zudem wirkt sich auch der Klimawandel vor allem in den ariden Gegenden Subsahara-Afrikas negativ auf die Resilienz der Nomadenvölker aus.

Ein Problem ist auch die zunehmende Nutzung von Weideland durch Ackerbauern. Dabei spielen begrenzte Feuchtgebiete in trockenen, ariden Landschaften oder fruchtbare Täler in bergigen Regionen eine entscheidende Rolle für das Überleben der Hirtenvölker, weil sie sich und die Tiere dort mit Wasser versorgen und erholen können. Fallen diese in Krisenzeiten überlebenswichtigen Flächen weg, wird ein gesamtes Land-/Tiernutzungssystem gefährdet. Die Kosten hierfür sind oftmals viel höher als die Profite, die durch den Ackerbau gewonnen werden, betont das International Institute for Environment and Development (IIED) in einem Bericht, der sich mit dem Thema Pastoralismus versus Ackerbau beschäftigt (IIED 2013). Hinzu kommt laut IIED, dass die Wertschöpfung in solchen Fällen oftmals verlagert wird, weg von der einheimischen Bevölkerung und den viehhaltenden Pastoralisten hin zu Großgrundbesitzern und weltweiten Konzernen.

Auch im Hinblick auf den stetig wachsenden Konsum von tierischen Produkten, sind kluge und zielgerichtete Maßnahmen notwendig, die die Pastoralisten unterstüzen. Zum Beispiel sollten ihre Landrechte gestärkt werden, sie sollten besser an Märkte angebunden und vermehrt an politischen Diskursen beteiligt werden.


Cornelia Heine ist Tierärztin und Referentin für Pastoralismus bei Tierärzte ohne Grenzen.
cornelia.heine@togev.de


Literatur:
Davies, J., 2012
: Policies in support of pastoralism and biodiversity.  Pastoralism: Research, Policy and Practice 2012.
IUCN/UNEP, 2014: Pastoralism and the Green Economy – a natural nexus? Status, challenges and policy implications.
https://portals.iucn.org/library/sites/library/files/documents/2014-034.pdf
IIED, 2013: Counting the costs: replacing pastoralism with irrigated agriculture in the Awash Valley, north-eastern Ethiopia.
http://pubs.iied.org/10035IIED.html
Smith, 2015 in: http://www.economistinsights.com/opinion/meat-we-eat-lives-we-lift