Regierungsführung

Die Geschichte des Hindu-Chauvinismus in Indien

Das Weltbild des indischen Premierministers Narendra Modi hat autoritäre Grundlagen, was westliche Stimmen oft übersehen. Es wäre gut, wenn sie mehr über die hindu-chauvinistische Kaderorganisation RSS wüssten, der Modi angehört.
RSS-Aktivisten marschieren 2022 durch Jaipur. picture-alliance/NurPhoto/Vishal Bhatnagar RSS-Aktivisten marschieren 2022 durch Jaipur.

RSS steht für Rashtriya Swayamsevak Sangh, was Nationale Selbsthilfeorganisation bedeutet. Der RSS wurde 1925 von Keshav Baliram Hedgewar in Nagpur gegründet. Seine Hauptinspiration war der Hindu-Nationalismus, den Vinayak Damodar Savarkar entwickelt hatte.

Vorbild für den RSS waren die italienischen Faschisten und später, als sie mächtiger wurden, auch die deutschen Nazis. Mussolini und Hitler galten als Helden. Es ging darum, eine Kaderorganisation zu schaffen, die auf dem gesamten Subkontinent die Idee einer nach traditionellen Normen lebenden hinduistischen Volksgemeinschaft verbreiten sollte. Das rigide und repressive Kastensystem gehörte selbstverständlich zu diesen Normen.

Im selben Jahrzehnt und mit ähnlichen Motiven entstand in Ägypten die Muslimbruderschaft. In beiden Fällen empörten sich konservative Mitglieder der gebildeten Mittelschicht über die Korruption der britischen Kolonialisten. Sie wollten die Gesellschaft mit religiösen Werten dagegen immunisieren und organisierten sich zu diesem Zweck nach dem Vorbild rechtsradikaler Bewegungen. Mit sozialen Initiativen verbreiteten sie ihre Ideologie.

Heute hat der RSS 4 bis 5 Millionen Mitglieder. Seine Mitglieder sind für paramilitärische Übungen bekannt, bei denen sie lange Bambusstöcke verwenden. Zur RSS-Doktrin gehören folgende Grundsätze:

  • Indien gehört den Hindus.
  • Hinduismus ist nicht nur Religion, sondern vor allem Lebensweise.
  • Jede Religion sollte ihren Glauben nach ihren Regeln und Traditionen in voller Freiheit praktizieren können.
  • Folglich muss, wer in Indien lebt, hinduistische Normen, Werte und Geschichte nicht nur akzeptieren, sondern sollte zu ihrem Schutz auch zu Opfern bereit sein.

Das mag harmlos klingen, ist es aber nicht. Die Ideologie zielt darauf ab, Minderheiten zu unterdrücken. Das betrifft nicht nur Indiens Muslim*innen, sondern auch Christ*innen. Der RSS akzeptiert zwar offiziell heimische Religionen wie Sikhismus und Jainismus, deren Anhängerschaft stört freilich, dass ihr Glaube zu Varianten des Hinduismus erklärt wird, an dessen Traditionen sich alle halten sollen.

Dass der RSS sich nationalistisch gibt, legt nahe, er habe sich an der Unabhängigkeitsbewegung beteiligt. Tatsächlich hat er aber die Kolonialmacht unterstützt, denn er lehnte Mahatma Gandhis Vision einer integrativen Nation, die allen Religionen gleiche Rechte gibt, ab. Auch sollte Pakistan nicht als Land für Muslim*innen entstehen. Er beteiligte sich in den 1930er-Jahren nicht an Gandhis Kampagnen des zivilen Ungehorsams, aus denen in den 1940er-Jahren die erfolgreiche Quit-India-Bewegung wurde. Der RSS konnte damals keine Massenbewegung für seine hindu-chauvinistische Vision auslösen.

Anfang 1948, keine sechs Monate nach dem Ende der Kolonialherrschaft, wurde Gandhi in Delhi ermordet. Der Täter war Nathuram Godse, ein ehemaliges RSS-Mitglied, dem zufolge Ghandi der hinduistischen Sache geschadet habe. Die Teilung des Subkontinents ärgerte ihn.

Der Attentäter kam vor Gericht, wurde zum Tode verurteilt und gehängt. Die RSS wurde kurzzeitig verboten. Über Jahrzehnte blieb die Kongresspartei die dominante politische Kraft.

Der säkulare Staat missfiel dem RSS von Anfang an. Er lehnte sogar die indische Trikolore ab. Die Farben der Fahne stehen nämlich für Islam (Grün), Christentum (Weiß) und Hinduismus (Orange). Der Löwe in der Mitte symbolisiert das antike buddhistische Ashoka-Reich, das fast ganz Südasien umfasste. Die Fahne beansprucht also keine hinduistische Vorherrschaft. Der RSS stellte fest: „Eine Flagge mit drei Farben hat gewiss eine sehr schlechte psychologische Wirkung und schadet einem Land.“

Breites Netzwerk

Der RSS ist der Kern des Sangh Parivar, eines breiten Netzwerks von Organisationen, die weitgehend tun, was der RSS erwartet. Die politische Partei des Sangh Parivar ist die BJP. Manche ihrer Spitzenleute sind selbst RSS-Mitglieder – wie etwa auch Premierminister Narendra Modi.

Andere Organisationen im RSS-Umfeld sind kulturell und sozial aktiv. Da es Massen von Menschen in Indien weiterhin an grundlegenden Dingen mangelt, sind die Sozialprogramme und Bildungsangebote des Netzwerks sehr wichtig. Sie wecken die Loyalität derer, die von ihnen profitieren, und sorgen für einen guten Ruf. Das Netzwerk durchdringt – abgesehen von den nicht hinduistischen Glaubensgemeinschaften – die gesamte indische Gesellschaft.

Etwa 80 Prozent von Indiens 1,4 Milliarden starker Bevölkerung sind Hindus und 14 Prozent Muslim*innen. Die übrigen gehören anderen Religionen an. Der Hindu-Chauvinismus hat historisch immer wieder Gewalt – meist gegen Muslime – eingesetzt. Modi durfte deshalb jahrelang nicht in die USA einreisen. Während seiner Amtszeit als Ministerpräsident von Gujarat brachen dort 2002 nämlich tödliche Krawalle aus.

Als Premierminister ist Modi dagegen heute ein von westlichen Regierungen umworbener Mann. Sie sehen ihn als potenziellen Verbündeten gegen China.

Bürgerliche Grundrechte sind im heutigen Indien nicht gewährleistet. Es sind Journalist*innen und politisch aktive Menschen ermordet worden. Aggressives Trolling soll in sozialen Medien Andersdenkende zum Schweigen bringen. Muslim*innen droht zunehmend Gewalt. Regelmäßig gibt es Lynchmorde. Größere islamfeindliche Ausschreitungen sind jederzeit möglich, wie zuletzt Anfang 2020 in Delhi.

Bedrohte Demokratie

Der RSS tut alles für seine hindu-chauvinistische Programmatik. Seine Partei, die BJP, ist inzwischen die stärkste politische Kraft, aber sie regiert nicht unangefochten. In mehreren großen Bundesstaaten bilden andere Parteien die Landesregierung. Sie haben ein Bündnis geschlossen, um bei den nationalen Wahlen 2024 zusammen anzutreten. Allerdings war die BJP bei mehreren Landtagswahlen in den vergangenen Wochen erfolgreich.

Die BJP hat enge Beziehungen zu wichtigen Unternehmen aufgebaut, auch in der Medienbranche. Einflussreiche private TV-Sender unterstützen Modi. Es ist ihm auch in gewissem Maß gelungen, das Militär in die RSS-Agenda einzubinden. Auch in der Justiz findet Modi Unterstützung, wobei der Oberste Gerichtshof nicht immer so urteilt, wie er es sich wünscht.

Indiens Demokratie ist bedroht. Setzt sich der RSS durch, wird die säkulare Verfassung obsolet. Ohnehin marginalisierte Minderheiten werden dann auch noch den rechtlichen Anspruch auf Gleichberechtigung verlieren. Hindu-chauvinistische Propaganda beschuldigt seit den Hamas-Anschlägen in Israel vom 7. Oktober wieder alle Muslim*innen pauschal des Terrorismus.

Suparna Banerjee ist Politikwissenschaftlerin und lebt in Frankfurt. 
mail.suparnabanerjee@gmail.com

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